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Der Held aus Juda siegt mit Macht
Johann Sebastian Bachs Johannespassion – ihre Geschichte – ihre Theologie
1. Anfängliche Hinweise
Fünf große Passionsmusiken soll Johann Sebastian Bach dem kurz nach seinem Tode von seinem Sohn Carl Philip Emanuel und Johann Agricola verfassten Nekrolog nach geschrieben haben. Immer wieder ist diese Angabe in Zweifel gezogen worden. Kennen wir doch nur drei Passionen – genau genommen nur zwei. Wir kennen die Johannespassion und die Matthäuspassion. Aus zuverlässigen Nachrichten und über Parodiebeziehungen kennen wir die Chöre und Arien der verschollenen Markuspassion. Eine teilweise in Bachs Handschrift vorliegende Lukaspassion aus der Weimarer Zeit hat sich längst als das Werk eines anderen herausgestellt. Wo sind die beiden anderen Passionsmusiken, von denen der Nekrolog spricht? Sind sie verschollen, wie die Markuspassion? Verschollen, ohne Spuren zu hinterlassen wie eine vermutete Lukaspassion? – das wäre ungewöhnlich. Irrt der Nekrolog? – auch das ist wenig wahrscheinlich. Es bleibt nur die Möglichkeit, dass sich die verschollenen Passionen in, mit und unter den vorhandenen finden lassen.
In der Tat hat Johann Sebastian Bach sich in seiner Leipziger Zeit wiederholt mit der Johannes Passion befasst und sie auch mindestens viermal zur Aufführung gebracht. Der Bibeltext blieb gleich – natürlich. Bach übernimmt den Bibeltext seiner Oratorien und Passionen unverändert aus der Luther-Bibel mit zwei Ergänzungen aus der Passionsgeschichte des Matthäus.. Aber er verändert Chöre und Arien: fügt hinzu, lässt weg. Man gewinnt den Eindruck, als stellt die Arbeit an der Johannespassion einen Prozess dar, der sich über viele Jahre hinzieht. Mittlerweile ist die Geschichte dieses Werdens der Johannespassion in ihren Einzelheiten nachgezeichnet und beschrieben worden.
Immerhin zeigt dieser überlieferungsgeschichtliche Befund, dass Bach sich mit der „kleineren“ Passionsmusik nach dem Evangelisten Johannes intensiv auseinandergesetzt hat – dem Befund nach mehr als mit der größeren Matthäuspassion, die er gegen Ende seines Lebens noch einmal in Reinschrift vorlegt und wie die h-moll Messe und die Kunst der Fuge, wie die Clavierübungen und das „Musicalische Opfer“ für Kompositionen hält, die ihn und seine Zeit überdauern werden. Die Johannespassion ist ein Kunstwerk im Werden, auch wenn wir es als eine fertige Komposition hören, wenn sie bei uns zum festen kulturellen Bestandteil vorösterlicher Musik geworden ist: aufgeführt in nahezu jeder mittleren Stadt in Deutschland, gesungen von professionellen Chören und von Laienmusikern, angehört von Menschen, die vielfach dem traditionellen Christentum längst entfremdet sind. Konfessionsgrenzen hat die Kirchenmusik Bachs längst überwunden.
Es scheint, und es hat in der Tat Stimmen gegeben, die meinen, man könne die Musik losgelöst von ihrem Inhalt hören, den Klang vom Text abheben und so ein allgemeines ästhetisches Erlebnis erreichen, das nun einmal in die Form der protestantischen Gottesdienstmusik des 18. Jahrhunderts gekleidet ist, wobei dieses Kleid eben nur ein Kleid ist, das die wahre Gestalt der Musik zeitbedingt verhüllt.
Diese ästhetisierende Sicht auf die Johannespassion würde verkennen, dass es in der künstlerischen Absicht Bachs liegt, durch seine Musik den Text auszulegen, wobei der Text des Evangeliums selbst die bestimmende Rolle spielt.
Zeitgleich zu Bach und auch später wird man in den oratorischen Passionsmusiken, die nicht mehr in den Karfreitagsgottesdiensten aufgeführt werden, den Bibeltext durch paraphrasierende Nachdichtungen ersetzen. Bach zitiert Bibeltext – wie vor ihm schon Heinrich Schütz – aber im Gegensatz zu ihm fügt er Musikstücke hinzu, die Texten freier Dichtung folgen, du die so das vorgestellte biblische Geschehen deuten, nachvollziehen, vertiefen und auf die gegenwärtige Situation der glaubenden Gemeinde hin auslegen. Also stellen wir vor allem anderen zunächst die Frage nach dem Bibeltext selbst, nach seinem Aufbau, seinen Voraussetzungen und Implikationen.
2. Die Passionserzählung nach Johannes
In der neutestamentlichen Forschung ist man sich darüber weitgehend einig, dass es sich bei den Berichten über das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu nicht um primäre Augenzeugenberichte handelt. Die Evangelisten sind Sammler und Redakteure. Sie haben das vorliegende Material gesammelt, bearbeitet, verglichen und zusammengefügt. Dabei hat jeder der vier Evangelisten – so sehr sie sich in ihren Berichten in den Grundzügen auch gleichen – seine eigene Absicht, seine eigene Theologie, die ihn bei der Auswahl und Zusammenfassung leitet.
Während Matthäus daran gelegen ist, die Jesus-Geschichte im Licht der alttestamentlichen Verheißungen zu deuten und es das offenkundige Interesse des Lukas ist, die Römer von der Schuld am Tode Jesu zu entlasten, möchte Johannes hervorheben, dass der Jesus, der zum Kreuz geht, kein anderer ist als der fleischgewordene Gott, von dem er im 1. Kapitel seines Evangeliums erzählt. Jesus bleibt souverän – auch und gerade auf seinem Weg zum Kreuz. Als die Tempelwache in verhaften will, stürzen die Soldaten ohnmächtig zu Boden.
Im Gespräch mit Pontius Pilatus wird deutlich, dass Jesus ein König ist, auch wenn sein Reich nicht von dieser Welt ist. Selbst im Spott der Folterer trägt Jesus die Königskrone aus Dornen und den Königsmantel, der die Spuren der Schläge nicht verdecken kann. Und letztlich sind die letzten Worte Jesu nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums „Es ist vollbracht!“ Gott am Kreuz – der Schöpfer selbst zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mit der Logik verträgt es sich nicht. Und die christliche Theologie hat sich der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes bedient, um den Tod und das Leben Gottes gleichzeitig denken zu können. Sehr eng mit der Theologie des Johannesevangeliums verwandt ist der urchristliche Hymnus, den Paulus in seinen Philipperbrief aufgenommen hat.
Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. (Philipper 2,5-11)
Der Weg des Sohnes Gottes geht von Gott zu Gott. Und was von außen betrachtet wie ein unentwirrbares Geflecht von schuldhafter Verstrickung und politischem Kalkül, von menschlicher Brutalität und göttlichem Schweigen aussieht, das erweist sich aus der Perspektive des Glaubens als die eine Lebensgeschichte, die alle anderen Lebensgeschichten mit einschließt. Der Herr geht für alle ans Kreuz, damit alle, die an ihn glauben auch mit ihm leben.
Johannes, der Evangelist ist kein Augenzeuge. Er greift auf Erzählungen aus den jungen christlichen Gemeinden zurück und gestaltet sie im Hinblick auf seine theologische Intention. Dieser gestaltenden Bearbeitung ist es geschuldet, dass die an der Passionsgeschichte Jesu beteiligten Menschen und Menschengruppen eher holzschnittartig gezeichnet werden. Die Jünger Jesu versagen angesichts seines Geschicks – mit Ausnahme des geheimnisvollen johanneischen Lieblingsjüngers, dem Jesus unter dem Kreuz seine Mutter anvertraut.
Der Hohepriester steht für die religiöse Elite des Judentums, die sich am und um den Jerusalemer Tempel herum angesiedelt hat. Zu dieser Elite ist Jesus wiederholt in den offenen Widerspruch getreten. Pontius Pilatus steht für die Römische Besatzungsmacht. Sein offenkundiges Interesse ist der Machterhalt. Dem opfert er auch den Jesus von Nazareth, an dessen Schuld aus seiner Sicht Zweifel immerhin möglich sind. “Die Juden“ repräsentieren das Volk, das Jesus ablehnt, und in sofern stehen sie auch bei Johannes für die Welt, die Gott nicht aufgenommen hat: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf!“
Die Passionserzählung des Evangelisten Johannes ist eine Sicht auf die Leidensgeschichte Christi, die durchaus die Bedeutung des Kreuzes für die Rede von Gott selbst reflektiert. Es ist eine dramatisierende Erzählung: In kurzem Wechsel folgen die Fragen des Pilatus und die Antworten des Volkes. Die Passionserzählung des Johannes ist eine theologisch besonders profilierte Darstellung des Leidens, Sterbens und Auferstehens Jesu Christi, aber sie ist nicht die einzige Darstellung, die uns überliefert ist.
Im Neuen Testament stehen ihr die Passionserzählungen von Markus, Matthäus und Lukas zur Seite, die jede auch auf ihre eigene Weise konturiert sind und andere theologische Akzente setzen als Johannes. Und es gibt darüber hinaus noch Passionserzählungen zweifelhafter Herkunft oder legendärer Ausschmückung in den sogenannten „apokryphen“ Evangelien aus den ersten 4 nachchristlichen Jahrhunderten, die von der christlichen Kirche nicht als autoritative Schriften anerkannt worden sind.
Theologie ist immer auch eine Sache der Perspektive. Mehrere unterschiedliche Perspektiven müssen einander nicht ausschließen, sie können auch einander ergänzen, können vor Einseitigen Festlegungen bewahren. Gewiss: es geht immer um die eine Jesus-Geschichte. Aber unterschiedliche Menschen haben sie unterschiedlich gesehen, erfahren und geglaubt. Das spiegelt sich schon im Neuen Testament wieder und erst recht in der kirchlichen und musikalischen Tradition, die diesen Texten gefolgt ist.
In den Gottesdiensten der Karwoche hat man diesen unterschiedlichen Texten dadurch Rechnung getragen, dass man – beginnend mit dem Palmsonntag zunächst die Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem (Joh. 12,12-19) und ab dem Montag fortsetzte mit der Lesung der Leidensgeschichte nach Matthäus, am Dienstag der nach Markus und am Mittwoch der Karwoche wurde die lukanische Passionsgeschichte gelesen. Der Donnerstag war der Erzählung von der Einsetzung des Abendmahls vorbehalten und der Karfreitag stand ganz im Zeichen der Johanneischen Passionsgeschichte. Die Anordnung der einzelnen Lesungen lässt durchaus eine Wertigkeit erkennen: Über Johannes schrieb der Kirchenvater Augustinus (354 - 430 n. Chr.):
Unter den ... vier Büchern eines Evangeliums hat der heilige Apostel und Evangelist Johannes, welcher gemäß seiner geistigen Erkenntnis dem Adler verglichen wird, höher und weit erhabener als die anderen drei seine Verkündigung erhoben und dadurch auch uns erheben wollen. (Tract. 36. in Joh. Nr. 1)
Noch deutlicher äußert sich Martin Luther in seiner Vorrede zum Neuen Testament:
Weil nun Johannes gar wenig Werke von Christus, aber gar viele seiner Predigten beschreibt, umgekehrt die andern drei Evangelisten aber viele seiner Werke und weniger seiner Worte beschreiben, ist das Evangelium des Johannes das einzige, schöne, rechte Hauptevangelium und den andern dreien weit, weit vorzuziehen und höher (als sie) zu heben
Johann Sebastian Bach ist nicht nur im überlieferten und gelebten Luthertum Mitteldeutschlands aufgewachsen, er hat sich die Theologie Martin Luthers und seiner Nachfolger explizit selber zu eigen gemacht. Die Auflistung der Bücher seiner Bibliothek, die nach seinem Tode angefertigt worden ist, zeigt, wie sehr der Thomaskantor selber nicht nur lutherischer Christ, sondern auch lutherischer Theologe gewesen ist.
Als solcher wird auch er dem Johannesevangelium seinen besonderen Ort im Kanon der biblischen Bücher zugemessen haben. Und also wird er auch bei der Komposition der Johannes Passion eine besondere musikalische und theologische Sorgfalt an den Tag gelegt haben. Rudolf Smend hat in seiner großen Arbeit über die Johannes Passion auf die durchdachte Architektur dieses Werkes hingewiesen, und er hat deutlich gemacht, wie die musikalische Gestaltung einem theologischen Programm folgt.
Wer sich mit dem kirchenmusikalischen Werk Johann Sebastian Bachs beschäftigt, der hat sich unweigerlich auch mit der lutherischen Theologie des 16. – 18. Jahrhunderts zu beschäftigen. In der Entwicklung der evangelischen Kirchenmusik ist Bach wohl der letzte für den diese enge Verbindung von Schrift und Schriftauslegung, von Choral und Bekenntnis gilt. Nach ihm kam die Aufklärung, die sich von den dogmatischen Traditionen gelöst hat, für die Bibeltext und Choral nicht mehr die normative Bedeutung für die Gestaltung der Kirchenmusik hatte, wie das noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der evangelischen Kirche die Regel war.
3. Die Passionsmusiken in der evangelisch-lutherischen Kirche
Es ist wahrscheinlich, dass man in der christlichen Kirche die Lesungen nicht mit Sprechstimme vorgetragen, sondern in bestimmten „Lektionstönen“ gesungen hat. Singen trägt in großen, halligen Räumen nicht nur besser als die Sprechstimme. Das Singen nach vorgegebenen Lektionstönen bewahrt auch vor allzu individueller Deutung und Interpretation. Dabei legt es sich von selbst nahe, dass man die dramatischen Passionserzählungen der Evangelien auch mit verteilten Rollen gesungen hat. Bestimmte Rollen bildeten sich heraus.
Der Erzähler, auch Evangelist genannt wird von der Tenorstimme verkörpert. Die Christusworte sind der Bassstimme zugeordnet. Die übrigen Gestalten der Passionsgeschichte verteilen sich auf die hohen Männerstimmen (Frau des Pilatus, Magd) und auf die Männerstimmen. Der Chor übernimmt die Rolle der Priester, der Jünger, des Volkes und der Soldaten. Im Prinzip gilt diese Aufteilung der Rollen in der Passion bis zu Johann Sebastian Bachs großen Passionen. Im Gegensatz zu der ursprünglich beabsichtigten „Objektivität“ bei der Praxis der kantilenen Lesungen, wird hier aber nun doch die individuelle Hervorhebung der einzelnen Rollen in ihren Situationen möglich.
Die Passionsmusiken Heinrich Schütz´s gehören zu diesem Passionstyp der gottesdienstlichen Vokal-Passion. Die Passionsvertonung steht im Gottesdienst an der Stelle der Evangelienlesung. Sie beginnt mit einem einleitenden Chorsatz: Das Leiden unseres Herrn Jesus Christus wie uns das beschreibet der heilige Evangelist Johannes - und sie schließt mit einem vom Chor gesungenen Dankgebet: O, hilf, Christe, Gottes Sohn. Der Bibeltext wird gesungen und auf die bekannten Rollen verteilt. So entstehen Auslegung und Ausdruck allein mit den mitteln der chorischen und der solistischen Singstimmen.
Erst später, in der Generation nach Heinrich Schütz treten zu der gesungenen Passion die Instrumente hinzu, und noch eine Generation später werden die Formen aus der italienischen Oper, Rezitativ und Arie als Elemente der Deutung des Geschehens und der Anteilnahme an diesem Geschehen in die Passionsmusiken übernommen. In Kreisen der Pietisten regt sich Widerstand gegen diese „opernhaften“ Kirchenmusiken. Bachs große Passionsmusiken gehören zu den letzten Vertonungen und Bearbeitungen der biblischen Passionsberichte, die noch ihren angestammten Platz im evangelisch-lutherischen Gottesdienst haben. Schon die Passionsmusiken von Carl Philipp Emanuel Bach sind Erbauungsmusiken, die nicht mehr in der Kirche, sondern die im Konzertsaal aufgeführt werden. Mit den großen Passionen Johann Sebastian Bachs erlebt die evangelisch-lutherische Kirche den Höhepunkt ihrer gottesdienstlichen Musik.
4. Die Quellen
Von der wichtigsten Quelle, der Passionserzählung des Evangelisten Johannes war schon die Rede. An zwei Stellen fügt Bach kurze Abschnitte aus der Passionserzählung des Evangelisten Matthäus ein. Sie betreffen die Erzählung von der Verleugnung des Petrus und die Erzählung von dem Erdbeben, das Jerusalem nach dem Tod Jesu erschütterte und dem zerrissenen Tempelvorhang. Bach hat diese Einfügungen aus dem Matthäusevangelium der Passionsharmonie des Johannes Bugenhagen entnommen. Die Einfügungen dienen beide der dramatischen Steigerung des Berichtes.
Das bei Matthäus berichtete Weinen des Petrus über seinen Verrat ist ein starker Affektausdruck. Diesen nimmt die folgende Tenor-Arie auf „Ach, mein Sinn, wo willst du endlich hin.“ - noch stärker in der Choralstrophe:
Petrus, der nicht denkt zurück,
Seinen Gott verneinet,
Der doch auf ein' ernsten Blick
Bitterlichen weinet.
Jesu, blicke mich auch an,
Wenn ich nicht will büßen;
Wenn ich Böses hab getan,
Rühre mein Gewissen!
Und das Arioso „Mein Herz, in dem die ganze Welt bei Jesu Leiden gleichfalls leidet“ nimmt die Schilderung des Erdbebens und des zerrissenen Vorhangs im Tempel auf.
Eine weitere Quelle ist das Evangelische Gesangbuch. In den verschiedenen regional unterschiedlichen Gesangbüchern finden sich die Choräle, die von der versammelten Gemeinde im Gottesdienst und von den bürgerlichen Familien in den Häusern gesungen werden. Die Choräle sind wie keine andere Textgattung, Spiegel der Frömmigkeit ihrer Zeit. Das gilt für die öffentliche und für die Privatfrömmigkeit. Die an Bibel und Katechismus angelehnte Sprache der evangelischen Lieder prägt die religiösen Vorstellungen der Menschen und ihre Theologie.
Die evangelischen Choräle sind das Kulturgut der Gemeinden – ja sie sind ihr anvertrauter Besitz. In der Chorälen der Kantaten, Oratorien und Passionen Bachs kommt die Gemeinde selbst zu Wort, auch wenn sie die Liedstrophen in den Kantaten, Passionen und Oratorien selbst nicht mitgesungen, sondern sie betend, meditierend und erinnernd mitvollzogen hat. In den Chorälen der Johannes Passion ist die gegenwärtige Gemeinde präsent. In den Chorälen setzt sich die Gemeinde selbst in Beziehung zu der Passionsgeschichte Jesu Christi. Was dort musikalisch verhandelt wird, das ist ihre eigene Sache – über den breiten Graben der Geschichte hinweg.
Bach greift zurück auf einen Text des Hamburger Juristen und Erbauungsdichters Christian Heinrich Postel (1658-1705) – so auf die Strophe „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn ist uns die Freiheit kommen“ – Sie entstammt einer lange fälschlich Georg Friedrich Händel zugeschriebenen Johannespassion . Und er nimmt die Liedstrophe „Ach mein Sinn, wo denkstu weiter hin?“ des zeitgenössischen Theologen und Dichters Christian Weise (1642-1708)23 zum Vorbild für die Arie „Ach mein Sinn, wo willstu endlich hin“
Die neben Bibel und Gesangbuch wichtigste Quelle für die Texte freier Dichtung in Bachs Johannes Passion ist die Dichtung: „Der für die Sünde der Welt gemarterte und Sterbende Jesus“ (1712) des Hamburger Ratsherren und Bürgermeisters von Ritzenbüttel Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) .
Sein Hauptwerk „Irdisches Vergnügen in Gott“ gilt in der Literaturwissenschaft als herausragendes Beispiel für die spätbarocke Naturlyrik. Brockes Passions-Dichtung erfreute sich bei den zeitgenössischen Kirchenkomponisten allgemeiner Beliebtheit. Diesen Text haben sowohl Reinhard Keiser (1674-1739) als auch Georg Friedrich Händel (1685-1759), Georg Philipp Telemann (1681-1767) und Johann Matthesson (1681-1764) wie auch Gottfried Heinrich Stölzel (1690-1749) vertont. Eine überaus beliebte Textvorlage, die sowohl den Geschmack der Zeit trifft als auch den Komponisten durch die Farbigkeit ihrer Sprache hinreichend Möglichkeiten zur Vertonung lässt.
Bach hat den Text für sieben Arien und Ariosi aus dieser Textvorlage entnommen, wobei er keinen dieser Texte unbearbeitet gelassen hat. Die Bearbeitungen dienen allgemein der Klarheit und Einfachheit der Textaussage. Sie dienen aber auch der theologischen Präzision. Bach übernimmt keine Texte, die seinem theologischen Anspruch nicht genügen können. Für ihn ist die Passion Jesu keine Darstellung des allgemeinen Menschenschicksals, das seine Bedeutung in der „Hoheit des Leidens“ und in der vorbildhaften, menschlichen Größe des Leidenden. Bach ist in der Auswahl seiner Texte vielleicht nicht immer so glücklich, dass die poetische Qualität den Zeitgeschmack überdauern würden. Theologisch ist er anspruchsvoll. Das wird deutlich wenn man die Texte der Vertonungen der Brockes Passion durch Bachs Zeitgenossen gegen seine eigenen Texte hält.
Wie groß der Anteil Johann Sebastian Bachs an der Textfassung der Johannes Passion insgesamt ist, ist in der Bach-Forschung umstritten. Man hat allerdings vermutet, dass die Bearbeitungen fremder Texte und auch die Autorschaft der nicht anderweitig belegten Texte der Johannes-Passion auf Johann Sebastian Bach selbst zurückgeht.
Brockes Passion Nr.1
Georg Friedrich Händel
Mich vom Stricke meiner Sünden zu entbinden,
Wird mein Gott gebunden.
Von der Laster Eiterbeulen
heilen,
Lässt sich verwunden.
Es muss, meiner Sünden Flecken zu bedecken,
Eignes Blut ihn färben,
Ja, es will, ein ewig Leben mir zu geben,
Selbst das Leben sterben.
Johannes Passion Nr.7
Johann Sebastian Bach
Von den Stricken meiner Sünden
Mich zu entbinden,
Wird mein Heil gebunden.
Mich von allen Lasterbeulen
Völlig zu heilen,
Läßt er sich verwunden.
Martin Geck hat in seiner Studie über die Johannes Passion auf den Textdichter der Matthäuspassion, Christian Friedrich Henrici verwiesen, der sich als Dichter Picander nannte. Bach soll mit ihm zusammen die Textbearbeitungen vorgenommen haben. Einen Beleg für die frühe Zusammenarbeit mit Bach gibt es aber nicht, genauso wenig wie die Annahme von Meinrad Walter, der den unbekannten Autor in dem Leipziger Pfarrer und Konrektor der Thomasschule Andreas Stübel sehen will. Alfred Dürr bleibt dabei, dass Bach als Autor solange nicht ernstlich infrage kommt, solange nicht auch andere Texte aus seiner Feder nachweisbar sind, die er vertont hat.
Die Frage wird wohl offen bleiben, solange sich nicht überzeugende Hinweise finden, die Klarheit schaffen können. Mir scheint es angesichts der theologischen Stringenz und dem durchdachten Aufbau des Textgerüstes der Johannes Passion keineswegs als ausgeschlossen, dass der Anteil Bachs an seinen Texten in der frühen Leipziger Zeit grösser ist als allgemein angenommen. Bach war nicht nur Musiker, er war auch Theologe. Warum sollte sich diese theologische Kompetenz nicht auch sprachlich geäußert haben?
Choräle, Arien und Ariosi deuten das biblische Geschehen und beziehen es auf die Gegenwart des einzelnen Gläubigen und auf den Glauben der versammelten Gemeinde. In diesen texten wird die Brücke versucht zwischen der Jesus-Geschichte im antiken Jerusalem und zwischen unserer Lebensgeschichte. Menschliche Grunderfahrungen versuchen diesen „garstigen Graben“ der Zeit, von dem Lessing gesprochen hatte, ebenso zu überspannen, wie die Affekte der Freude und des Schmerzes. Und außerdem schlagen diese Texte auch die Brücke zwischen dem Bibeltext und der gegenwärtig bedeutsamen Glaubensaussage. Die Bachschen Passionen gehören nicht nur in die Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts, sie sind auch bedeutsame Zeugnisse der biblischen Auslegungsgeschichte und der Entfaltung des christlichen Zeugnisses. Insofern gehört die Johannes Passion Johann Sebastian Bachs auch in die evangelische Predigtgeschichte.
Wie kann die alte Botschaft in unseren Ohren neu werden? Das Problem der sach- und zeitgemäßen Vermittlung beschäftigt die Kirche von Anfang an. Es hat unzählige Versuche gegeben, die biblische Erzählung zeitgemäßen Verstehensmöglichkeiten zu unterwerfen. Man hat die biblische Geschichte selber angefragt, ob sie in ihrer antiken Gestalt wirklich in der Lage ist, Gottes Wort aktuell zu bezeugen. Es gibt modernistische Versuche, die christliche Botschaft in eine allgemeine Spiritualität einzuordnen, und es gibt fundamentalistische Versuche, die davon ausgehen, dass die Hör- und Verstehensbedingungen sich seit der Antike nicht geändert haben und nur eine wortwörtliche Rezeption einen Zugang zur Wahrheit Gottes ermöglicht.
Die Bachschen Kantaten, Oratorien und Passionen gehen einen anderen Weg. In ihnen kommt der Bibeltext unverändert zur Sprache, aber Bach und seine Textdichter legen ihn aus, setzten ihn mit ihrer Gegenwart in Beziehung uns schaffen so Verstehen. Und es ist unsere Erfahrung des 20. und des 21. Jahrhunderts, dass diese Art der Vermittlung immer noch aktuell ist und bei vielen Menschen immer noch zu ihrem Ziel kommt.
5. Die Eingangschöre
Bach hat die Johannespassion zum ersten Male am Karfreitag 1724 in der Nikolai Kirche im Nachmittagsgottesdienst aufgeführt. Dieser Nachmittags-Gottesdienst war durch eine Stiftung eingerichtet worden, um den Leipzigern auch in einer der Hauptkirchen einen respektablen und musikalisch reichhaltigen Gottesdienst zu ermöglichen. Seit 1712 wurden in der Matthäikirche – in Leipzig auch Neue Kirche genannt - jedes Jahr am Karfreitag „oratorische Passionen“ aufgeführt, unter ihnen auch die Brockes Passion von Georg Philipp Telemann oder die Brockes Passion von Georg Friedrich Händel.
Diese eher kulturelle Veranstaltung als Gottesdienst angesehene Erbauungsstunde wurde von den Leipzigern gern angenommen – zu Lasten des Gottesdienstbesuches in den Hauptkirchen. Das Legat ermöglichte nun auch einen kirchenmusikalisch gewichtigen Gottesdienst, der auch in seinen Passionsaufführungen mehr den überlieferten, am biblischen Text orientierten Kompositionen, also den „oratorischen Passionen“ zu Gehör brachte. Mit der Verbindung von Bibeltext und Choral, Rezitativ, Arioso, Arie und Chor schafft Bach einen Kompromiss, der die überkommene Tradition wahrt und sie zum Neuen hin behutsam öffnet. Dieser Kompromiss der Aufführung der Johannes Passion sollte schon im folgenden Jahr angefragt werden und zu einschneidenden Veränderungen führen.
Der Eingangschor der Johannespassion folgt in seinem ersten Teil den Worten des 8. Psalms. „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist sein Name in allen Landen!“ Damit ist das theologische Vorzeichen für alles Weitere gesetzt. Es geht um die Geschichte des Gottessohnes, der am Kreuz über die Mächte finanzierte, so wie es in den romanischen Triumphkreuzen dargestellt worden ist. Die dreimalige Anrufung Gottes „Herr, Herr, Herr“ weist deutlich auf die Dreieinigkeit Gottes hin, ebenso wie die dreiteilige Anlage des Eingangschores. Die bewegten Streicherstimmen über dem ruhenden Orgelpunkt der Continuo-Stimmenschaffen eine ebenso spannungsvolle wie dramatische Atmosphäre. Die beiden Flöten, die die Spannung bis zum ersten Einsatz des Chores noch erhöhen, fehlen in der ersten Version der Johannes Passion noch. Bach und sein Textdichter – wer immer es gewesen sein mag – deuten den 8. Psalm trinitarisch. Das entspricht ganz der johanneischen Theologie, die Gott ganz und gar in der Passion Jesu am Werke sieht.
Herr, unser Herrscher,
dessen Ruhm In allen Landen herrlich ist!
Zeig uns durch deine Passion,
Dass du, der wahre Gottessohn,
Zu aller Zeit,
Auch in der größten Niedrigkeit,
Verherrlicht worden bist!
Andererseits kommt diese großangelegte Komposition auf den Text freier Dichtung sehr dem Stil des Passionsoratoriums nahe, wie es jeden Karfreitag in der Neuen Kirche in Leipzig aufgeführt wurde. Vielleicht ist das der Grund, warum Bach zur Aufführung der Johannespassion im folgenden Jahr 1725 diesen Chor durch eine groß angelegte Choralbearbeitung ersetzt hat. O Mensch, bewein dein Sünde groß. Diese Choralbearbeitung findet ihren endgültigen Ort Karfreitag 1727 in der Matthäuspassion am Ende des ersten Teils.
Für diese Veränderungen sind vielfältige Gründe genannt worden. Es ist immerhin denkbar, dass die einflußreichen Kreise der Leipziger Hauptkirchen auf eine konservative, vor allem an Bibeltext und Choralstrophe orientierte Passionsmusik diese theologische und musikalische Korrektur bewirkt hat. Ähnliches betrifft auch den Schlußchor der Johannespassion, den Bach gegen die Choralbearbeitung O hilf Christe, Gottes Sohn aus der Kantate „Du wahrer Gott und Davids Sohn“ BWV 23 ausgetauscht hat. Beide Veränderungen, dazu noch die Streichung der beiden Bibeltextstellen aus dem Matthäusevangelium, lassen Überlegungen, die in diese Richtung gehen, als wahrscheinlich erscheinen.
O Mensch, bewein dein Sünde groß,
Darum Christus seins Vaters Schoß
Äußert und kam auf Erden;
Von einer Jungfrau rein und zart
Für uns er hie geboren ward,
Er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
Und legt darbei all Krankheit ab,
Bis sich die Zeit herdrange,
Dass er für uns geopfert würd,
Trüg unsrer Sünden schwere Bürd
Wohl an dem Kreuze lange.
6. Deutung und Anteilnahme – die Arien
Die oratorische Passion Bachs folgt der seit dem Mittelalter vorgenommenen Einteilung der Passionsgeschichte in 5 Akte: 1. Jesus im Garten, 2. Jesus vor dem Hohen Rat, 3. Jesus vor Pilatus, 4. Jesus am Kreuz, 5. Die Grablegung - nach diesen Akten werden die Bibeltexte eingeteilt und diesen 5 Akten entsprechend werden vom Textdichter und vom Komponisten auch Arien und Choralstrophen zugeordnet.
Anders als in der Matthäuspassion behält Bach das berichtende Rezitativ (Rezitativo Secco, vom Basso Continuo begleiteter Sprechgesang) einzig dem Bibeltext vor. Deutende Solo-Partien verteilen sich auf Arioso (also orchestral begleiteten Gesang, der weder den berichtenden Ton des Rezitaives hat, noch die formale Geschlossenheit der Arie) und Arie, Formen, die aus der italienischen Oper in die protestantische Kirchenmusik übernommen worden sind.
In der Reformationszeit und nachfolgend im 17. Jahrhundert war und blieb der Vortrag des Bibeltextes weitgehend der Inhalt der figuralen Kirchenmusik. Die spätere Zeit, von Pietismus und Frühaufklärung gleichermaßen beeinflusst, sucht die Beteiligung an diesem fremden Geschehen der Passion Jesu. Sie will Beteiligung der Gemeinde und des Einzelnen. Ziel ist die Erbauung, die Nahrung für den Inneren Menschen. Die Musik kann Affekte erregen. Sie kann die Zeit dehnen und verkürzen. Ihre Kraft entfaltet sie in ihren Gegensätzen. So greift sie direkt nach der Emotionalität des Menschen, bis dahin, dass im Laufe der Zeit der Text ganz von der Musik aufgesogen wird und letztlich für die emotionale Bewegtheit des Einzelnen und auch des Publikums so gut wie keine Rolle mehr spielt.
Zu Bachs Zeit ist das noch anders. Der Text der Passionsdichtung hat das absolute Prä. Das Textbuch der Passionsmusik muss dem zuständigen Superintendenten zur Genehmigung vorgelegt werden. Immerhin ist die Passionsmusik Bestandteil eines Gottesdienstes, wenn auch dieser gegenüber den anderen Gottesdiensten in den Leipziger Hauptkirchen einige Veränderungen erfahren hat. Und in Leipzig ist man darauf bedacht, ganz im Fahrwasser der lutherischen Glaubenslehre zu bleiben und diesen Bekenntnisstandpunkt auch nicht „modernen“ Kantaten- und Passionstexten zu opfern.
Bach fügt die Arien seiner Johannespassion oft auf ein Stichwort hin ein. Dabei kann der weitere Verlauf der Handlung das „Stichwort“ in gänzlich anderem Licht erscheinen lassen. Petrus, der zu Beginn der Passionserzählung Jesus folgt, wird ihn bald darauf verleugnen. Das macht aber für die Dramaturgie der Passionsmusik die kurzzeitige Nachfolge nicht unerheblich. Es geht um den Moment des Bibeltextes, der in der Arie ausgelegt wird. Andere Momente der Geschichte verlangen andere Deutungen und erhalten sie auch. Dieses „Stichwort“ trägt den musikalischen Gehalt und es schafft die Brücke zwischen dem Bibeltext und dem gegenwärtigen Hörer.
Evangelist
Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein ander Jünger.
Arie (Sopran)
Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten
Und lasse dich nicht,
Mein Leben, mein Licht.
Befördre den Lauf Und höre nicht auf,
Selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.
Die Arie ist nur mit 2 unisono spielenden Flöten und Basso Continuo besetzt. Die Flöten – sie mögen für „Petrus und den anderen Jünger“ stehen geben die Melodie vor, der der Sopran nach 16 Takten mit einer ähnlichen Bewegung der Stimme folgt. In der barocken Musiksprache nennt man diese Folge „Fuga“ wenn eine Stimme der andern in derselben Bewegung im Kanon oder m Abstand einer Quinte folgt, und dennoch nach einigen Takten jede Stimme auch wieder ihre eigenen Wege im Zusammenhang des Ganzen geht. Bach unterscheidet zwischen der Neugier, aus der heraus Petrus Jesus nachfolgt, um zu sehen, was mit ihm geschieht und der Nachfolge Christi, die ihren Grund im Glauben an den gekreuzigten und Auferstandenen Herrn hat. Nachfolge bedeutet dann: Christus ähnlich, aber nicht Christus gleich werden. Die Form der „Fuga“ vermag genau diese Glaubens-Bewegung musikalisch abzubilden.
Die Arie ist dreiteilig und Folgt dem Schema A-B-A, wobei der dritte Teil gegenüber dem ersten verändert ist. Es ist barocke Symmetrie und barocke Bedeutsamkeit. Zahlen sind mehr als reine Zahlen – man hat sogar versucht, das gesamte Werk Bachs in Zahlenverhältnisse zu übersetzen und so zu verstehen. Es fällt schwer, sich Bach mit dem Rechenschieber vorzustellen. Viele musikalische Zahlenzusammenhänge ergeben sich aus rein musikalischen oder auch aus textlichen Gründen. Bestimmte Zahlen jedoch verdienen bei Bach besondere Aufmerksamkeit: die zwei als Zahl der beiden Naturen Jesu Christi, drei, die für die Trinität Gottes steht und die 24 und die 42 mit denen Bach seinen Namen in seine Komposition musikalisch eingetragen hat.
Die Tonart der Arie ist t B-Dur, hat einen nahezu heiteren Charakter und steht so in deutlichem Gegensatz zu der vorhergehenden Alt-Arie „Von den Stricken meiner Sünden mich zu entbinden“ . Hinzu kommt der tänzerische Charakter der Komposition. – Ein Lichtblick in der Passionsmusik. Gleichzeitig ist es ein Gebet an den Herrn der Passion, dass die gläubige Hörerin und Sängerin im Bereich dieser Geschichte bleibt. Einen gänzlich anderen Charakter trägt die Arie, die auf das letzte Wort des sterbenden Jesus am Kreuz folgt.
Wieder ist die instrumentale Besetzung zunächst sehr sparsam. Die Viola da Gamba wird vom Basso Continuo begleitet. Die Gambe, ein altes Instrument in der Tonlage des Violoncello, aber mit Griffbünden ausgestattet wie die Gitarre, hat einen eigentümlich trockenen, zurückgenommenen Klang. Sie gibt der Trauerarie ihre eigene Färbung einer Totenklage43. Die Alt-Stimme greift die Worte des berichtenden Evangelisten auf, nicht nur textlich, sondern auch in der musikalischen Gestalt. Mit dem Auftakt zum 20. Takt verändern sich abrupt Besetzung, Tonart, Takt und damit auch der Charakter des Stückes. Aus der Totenklage wird eine Siegesfanfare: D-Dur ist die Tonart der Auferstehung in der h-moll Messe „et resurrexit“.
Die Altstimme geht mit der Fanfare voran „Der Held aus Juda siegt mit Macht!“, die Streicher fallen in repetierenden 16/teln ein – wie im 1. Satz des 5. Brandenburgischen Konzertes. Die Singstimme singt Koloraturen auf die Worte „Macht“ und Kampf“ – um dann wieder zurückzukehren zu der anfänglichen Totenklage „Es ist vollbracht“. Die Verbindung von Totenlage und Siegesmarsch spiegelt das Geschehen von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi und sie entspricht auch der Theologie des Johannesevangeliums. Ohne den Sieg des Auferstandenen Christus bleibt sein Tod ein schreckliches Ereignis in einer Reihe schrecklicher Ereignisse, die die Menschengeschichte von Anfang an begleiten und erschüttern. Ohne den Tod Jesu am Kreuz wird der Glaube zu einer enthusiastischen und ekstatischen Religion, die den Zusammenhang mit dem wirklichen Leben und Sterben zu verlieren droht. „Kreuz und Krone sind verbunden “ heißt es bei Bach an anderer Stelle.
Evangelist
Und von Stund an nahm sie der Jünger zu sich. Darnach, als Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, dass die Schrift erfüllet würde, spricht er:
Jesus
Mich dürstet!
Evangelist
Da stund ein Gefäße voll Essigs. Sie fülleten aber einen Schwamm mit Essig und legten ihn um einen Isopen, und hielten es ihm dar zum Munde. Da nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er:
Jesus
Es ist vollbracht!
Alt-Arie
Es ist vollbracht!
O Trost vor die gekränkten Seelen!
Die Trauernacht
Läßt nun die letzte Stunde zählen.
Der Held aus Juda siegt mit Macht
Und schließt den Kampf.
Es ist vollbracht!
7. Der Choral – die Stimme der Gemeinde
Im Choral ist die Gemeinde präsent. Im Choral kommt sie in der Passion zur Sprache. Aber im Choral findet sie sich auch wieder. „Bibelwort und Choral“ sind die beiden theologisch-liturgischen Schwerpunkte, die Luther und Bach miteinander verbinden. Seit der Reformation ist der Choral, das evangelische Kirchenlied die hörbare Form der Beteiligung der ganzen Gemeinde im Gottesdienst, in den reformierten Gemeinden ist es der Psalmengesang. Das Wort Gottes und die Antwort der Gemeinde entsprechen einander
Ohne das Bibelwort wäre die Gemeinde in der Passionsmusik ohne Grund, ohne den Choral wäre ihr Glaube lediglich eine historische Angelegenheit, die keinen Gegenwartsbezug mehr hat. Glaube ist „nicht nur eine gewisse Erkenntnis, dadurch ich alles für wahr halte, was uns im Evangelium geoffenbart ist, sondern auch ein herzliches Vertrauen, welches der Heilige Geist in mir wirkt...“ heißt es im Heidelberger Katechismus der reformierten Gemeinden, lutherischerseits würde man das kaum anders formulieren.
Die Gemeinde kommt zu Wort mit ihrer Betrachtung und auch mit ihrem Gebet. Für Bach steht der Choral zeitlebens in der Mitte seines Schaffens. Der Choral bestimmt die Orgelmusik, keine seiner nahezu 200 Kirchenkantaten kommt ohne eine Choralstrophe aus. In seinem Nachlass fanden sich über 300 Choralsätze, die sein zweitjüngster Sohn dann nach seinem Tode herausgegeben hat. Und auch seine Passionen sind von Choralstrophen durchzogen. Sie folgen der Dramatik des Bibeltextes. Bisweilen hört man zwei Choralstrophen kurz nacheinander, bisweilen ist dem Passionsgeschehen und seiner musikalischen Deutung in Arioso und Arie mehr Raum gegeben. An einer Stelle verbindet Bach Arioso und Choral und schließt damit die Gläubige Seele und die Gemeinde zusammen.
Eine besondere Bedeutung kommt der Choralstrophe zu „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muss uns die Freiheit kommen...“ . Dieser Text ist in der bekannten Gesangbuchliteratur des 17. und des 18. Jahrhunderts nicht nachgewiesen. Der Text stammt von Christian Heinrich Postel (1658-1705) einem Hamburger Poeten, der über einen beträchtlichen literarischen Ruf verfügte . Aus seiner Passionsdichtung erscheint dieser choralähnliche Text in einer lange Georg Friedrich Händel zugeschriebenen „Johannes-Passion“, die aber wohl in norddeutschem Umfeld anzusiedeln ist und heute entweder Georg Böhm (1661-1733) oder Christian Ritter (1645?- nach 1717) .
In dieser Passionsmusik erscheint der Text als Sopran-Arie:
Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn,
Muss uns die Freiheit kommen;
Dein Kerker ist der Gnadenthron,
Die Freistatt aller Frommen;
Denn gingst du nicht die Knechtschaft ein,
Müßt unsre Knechtschaft ewig sein.
Bach gestaltet diese Strophenarie um zu einer Choralstrophe um und unterlegt ihn mit der Melodie „Machs mit mir Gott nach deiner Güt“ von einem seiner Leipziger Vorgänger Johann Hermann Schein (1586-1630).
In der Architektur der Johannespassion bildet dieser Choral die Mitte der Schilderung des Prozesses Jesu. Friedrich Smend hat in dieser von Bach zur Choralstrophe erhobenen Text das Herzstück der Johannespassion gesehen . Um diese Choralstrophe herum ranken sich die dramatischen Szenen des 2. Teils der Passion: Rezitative und Chöre wechseln miteinander ab. Alles drängt auf den entscheidenden Entschluss des Gouverneurs hin. Ob er ihn frei lässt? Ob er dem Unschuldigen gerecht wird? „und von dem an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe!“ – heißt es lapidar.
Es ist wie der 4. Akt in der klassischen Tragödie, der den fatalen Lauf der Dinge noch einmal aufhält, der in der konsequenten Hoffnungslosigkeit noch einmal Hoffnung aufkeimen lässt. Die Choralstrophe widerspricht den falschen Hoffnungen. Sie rückt theologisch die Dinge zurecht. Es gibt keinen Weg am Kreuz vorbei. Es gibt keinen Weg zum Heil der Welt, der das Leiden Gottes an der Welt aussparte.
8. Weg, weg mit diesem! – Die Juden in Bachs Johannes Passion
Evangelist (T), Pilatus (B)
Evangelist
Da Pilatus das Wort hörete, führete er Jesum heraus und satzte sich auf den Richtstuhl, an der Stätte, die da heißet: Hochpflaster, auf Ebräisch aber: Gabbatha. Es war aber der Rüsttag in Ostern um die sechste Stunde, und er spricht zu den Jüden:
Pilatus
Sehet, das ist euer König!
Evangelist
Sie schrieen aber:
Chor
Weg, weg mit dem, kreuzige ihn!
Evangelist (T), Pilatus (B)
Spricht Pilatus zu ihnen:
Pilatus
Soll ich euren König kreuzigen?
Evangelist
Die Hohenpriester antworteten:
Chor
Wir haben keinen König denn den Kaiser.
Die Szene hat ihren Höhepunkt erreicht: Wie in der antiken Tragödie stehen die Protagonisten dem Volk gegenüber: Pilatus und Jesus auf der einen, das Volk auf der anderen Seite. Die Rede wechselt in kurzen Episoden. Chor folgt auf Rezitativ. Es geht um Leben und Tod. Jesus schweigt. Das Volk und Pilatus handeln über seinen Kopf hinweg.
Im Johannesevangelium ist das Volk „die Juden“, für Johannes kaum ein Problem, da er sich doch selber zu den Menschen des jüdischen Volkes zählt. Für die Nachgeborenen schon ein Problem, die sich nur noch im Gegenüber, in Konkurrenz und Feindschaft zu den Juden sehen können. Die Legende vom „Gottesmord“ durch die Juden hat hier ihren Ursprung.
Bach ist an der Dramatik des Geschehens interessiert. Gerade in den Chören läßt er den Leidenschaften freien Lauf. Er verknüpft die einzelnen Themen miteinander, legt die ganze Szene symmetrisch an, indem er gerade so deutlich macht, dass im Zentrum des Geschehens weder Pilatus noch die Juden, sondern einzig der Herr steht, der um unseretwillen ans Kreuz gegangen ist:
Durch dein Gefängnis, Gotts Sohn ist uns die Freiheit kommen!...
Als nach der Schoa deutlich wurde, dass der im Nationalsozialismus zutage getretene Antisemitismus seine tiefen Wurzeln im Antijudaismus der deutschen Geistesgeschichte, aber auch in der christlichen Theologiegeschichte hatte, gerieten auch Bachs Passionen in die Kritik. Man warf ihnen Antijudaismus vor. Die Art, wie Bach die Juden – vor allem in der Johannespassion – behandele, gebe dem Judenhass deutlichen Nahrung. Die Verstockung, die ich in den Wiederholungen der Turbae, der Volkschöre zeige, sei für eine aufgeklärte Gegenwart nicht mehr tolerierbar. Und also könne man auch dieses musikalische Werk nicht mehr oder nur noch verfremdet aufführen, indem man beispielsweise in die Passionsaufführung Stücke von Arnold Schoenberg oder Luigi Nono integrierte, um so den antijudaistischen Wohlklang zu durchbrechen.
Dass das Entsetzen über den Mord an der europäischen Judenheit bis in eine radikale Kritik der geistigen und theologischen Wurzeln reichen musste, ist nur zu verständlich. Es wäre unehrlich gewesen, wenn man diese Wurzeln von der Kritik ausgenommen hätte wie etwa Martin Luthers Schrift „Von den Jüden und ihren Lügen“ oder seine letzte Predigt zwei Tage vor seinem Tod in Eisleben. Und letztlich traf diese Kritik auch die Texte des Neuen Testaments selbst, vor allem das Johannesevangelium, das die Schuld am Tode Jesu vor allem den Juden zuschiebt, und in dem auch den Juden vorwirft, sie hätten den Teufel zum Vater.
In der polemischen Auseinandersetzung verschwimmen oft die Begriffe. Bevor man ein Verdikt ausspricht, sollte man sich darüber klar sein, was mit den in Frage stehenden Begriffen eigentlich gemeint ist. Ich denke: Antjudaismus ist eine in der heidenchristlichen Kirche der ersten Jahrhunderte Judenfeindschaft, die sich von außen – also von den Heidenchristen her – gegen die Judenheit richtet. Da werden die Juden als „Gottesmörder“ bezeichnet, man isoliert Jesus von seinem Volk – Jesus war in dieser Perspektive kein Jude mehr sondern der erste Christ, man spricht dem auserwählten Volk Gottes die Erwählung und die Zukunft ab. Und dabei gilt festzuhalten, was Walter Jens sagte: „Jesus von Nazareth, ein Bruder der Verhöhnten und Gefolterten in aller Welt.“
Johannes, der Evangelist ist selber Jude. Jesus ist Jude. Paulus ist auch Jude. Wie können sie antijudaistisch sein? Wenn Jesus, Johannes und Paulus jüdisches Leben und jüdische Verhaltensweisen kritisieren, dann ist das eine Form der innerjüdischen Kritik. Und wir wissen aus unserem Volk und aus unseren Familien, dass die Kritik, die von innen kommt, oft viel heftiger und viel zugespitzter ist als alle Kritik, die von außen kommt. So trifft der Vorwurf des Antijudaismus nicht Johannes, den Evangelisten, wohl aber Martin Luther, der in seinem maßlosen heidenchristlichen, leider auch noch von ihm selbst anscheinend theologisch begründeten Judenhass, alles an Vorurteilen zusammensucht und ein Programm entwickelt, wie man die Juden, die sich nicht zu Christus bekehren, behandeln soll.
Natürlich steht Bach auch in dieser lutherischen Tradition. Es ist unwahrscheinlich, dass er den Antijudaismus seiner Zeit nicht geteilt hat. Es gibt aber keinerlei Beweis dafür, dass er sich in dieser Richtung besonders hervorgetan hätte. Bach vertont die Worte des Evangelisten. Er setzt die textlichen Aussagen und Empfindungen in Musik. Er kritisiert den ihm vorliegenden Text nicht. Er bildet die Dramatik des Geschehens ab. Schlag auf Schlag treffen der Bericht des Evangelisten, die Worte Jesu und des Pilatus und die Chöre aufeinander.
In den deutenden und interpretierenden Texten er Johannespassion ist jedoch keine besondere Judenfeindschaft auszumachen. Vielmehr kann man ihm eine Ahnung davon unterstellen, dass die Ablehnung Jesu durch große Teile der Judenheit zum verborgenen Heilsweg Gottes gehören, wie Paulus das im 11. Kapitel des Römerbriefes entfaltet hat.
Es gibt unter den Bach zeitgenössischen Passionsmusiken andere Beispiele:
Carl Heinrich Graun, Der Tod Jesu (1754)
Jerusalem, voll Mordlust, ruft mit wildem Ton:
„Sein Blut komm über uns und unsre Söhn und Töchter!“
Du siegst: Jerusalem!
Und Jesus blutet schon;
In Purpur ist er schon des Volkes Hohngelächter
,
Damit er ohne Trost in seiner Marter sei,
Damit die Schmach sein Herz ihm breche.
Voll Liebe steht er da, von Gram und Unmuth frei,
Und trägt sein Dornendiadem
Und eine freche, verworfne Mörderhand faßt seinen Stab
Und schlägt sein Haupt;
Ein Strom quillt Stirn und Wang herab:
Seht, welch ein Mensch!
Des Mitleids Stimme
Vom Richtstuhl des Tyrannen spricht:
Seht, welch ein Mensch! –
Und Juda hört sie nicht,
Und legt dem Blutenden,
mit unerhörtem Grimme,
Den Balken auf,
woran er langsam sterben soll;
Er trägt ihn willig und sinkt ohnmachtsvoll.-
Nun kann kein edles Herz die Wehmut mehr verschließen,
Die lang verhalt´nen Tränen fließen;
Er aber sieht sich tröstend um und spricht:
Ihr Töchter Zions, weinet nicht!
Der Textdichter schafft sich eine Evangelienharmonie, indem er die 4 Passionsberichte der Evangelien zu einem zusammenfasst. Dann lässt er seinen Gefühlen freien Lauf. Er rühmt das Mitleid des Tyrannen und schmäht die Uneinsichtigkeit und Mitleidlosigkeit der Juden. Hier, so denke ich, kann man durchaus von Anti-Judaismus in einer Passionsmusik sprechen.
Bei Bach sollte man mit solchen Verdikten vorsichtig sein, zumal die betrachtenden Texte gerade in diesem Abschnitt der Johannespassion auch nicht den leisesten Hinweis darauf geben, dass die „die Juden“ für Leiden und Tod Jesu verantwortlich gemacht werden sollten.
9. Der doppelte Schlusschor
Eingangschor und Schlusschor rahmen die Passion ein. Das war schon bei den frühen Choralpassionen der Fall. Man orientierte sich an den Lesungen der Bibeltexte im Gottesdienst, die ja auch nicht ohne Einleitung und Schlussvotum sind. Das Bemerkenswerte an Bachs Johannespassion ist, dass sie in der ersten und den späteren Fassungen 2 Schlusschöre aufeinander folgen lässt. Zum einen ist es der Chor:
„Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine...“ dem folgt die Choralstrophe von Martin Schalling: „Ach, Herr, laß dein lieb Engelein“
Der Textdichter des großen Schlusschores ist unbekannt. Der Form nach ist er – wie auch der Schlusschor der Matthäuspassion ein Grabgesang. Aber Bach gibt ihm eine eindeutig andere Klangfarbe. Der Chor erinnert an einen Tanz-Satz aus einer Suite, im 3/4tel Takt: an eine Sarabande. Wiederholt ist bemerkt worden, dass der Musik etwas „weltliches“ anhaftet . Der Grabgesang fällt fast heiter aus, zumindest aber gelassen. Das Grab ist keine Endstation. Der Tod Jesu schließt die Hölle zu und den Himmel auf – eine Textzeile die an die alte Anschauung von der Höllenfahrt Christi zwischen Karfreitag und Ostersonntag erinnert. Bach zeichnet die theologischen Aussagen musikalisch nach. Er misst die Spanne zwischen Himmel und Hölle im Tonumfang.
Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine,
Die ich nun weiter nicht beweine,
Ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh!
Das Grab, so euch bestimmet ist
Und ferner keine Not umschließt,
Macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.
Dennoch scheint Bach weder bei der ersten noch bei der 4. Fassung der Johannespassion dieser Chorsatz als Schlusspunkt der Passionsmusik gereicht haben. Ein Ende mit einem madrigalischen Chor gehört in der Tradition der Passionsmusiken zum Genus des Passionsoratoriums. Der Choral signalisiert die gottesdienstliche Verortung der Passionsmusik. Das letzte Wort erhält nicht die erbauliche Betrachtung des Passionsgeschehens durch den Chor. Das letzte Wort erhält die glaubende Gemeinde, die sich im Gebet an den gekreuzigten und auferstandenen Herrn wendet. Aus der Leidensgeschichte Jesu Christi erwächst die Hoffnung auf die Auferweckung der Toten. Die der in seinem Tod den Tod überwunden hat.
Viele Bachschen Kirchenkantaten schließen mit diesem eschatologischen Ausblick in die Zukunft des Reiches Gottes, die auch zugleich die Zukunft der christlichen Gemeinde ist. So ist der Schlusschoral Gebet und Predigt zugleich, und die Passionsgeschichte bleibt nicht in der historischen und emotionalen Betrachtung stecken, sondern sie weitet sich und erinnert daran, dass wir es mit der Passion Jesu nicht um ein historisches Ereignis handelt, das bestenfalls beispielhaften Charakter haben kann, sondern das der Grund ist für das eigene Leben, die eigene Zukunft und die eigene Hoffnung.
Ach Herr, lass dein lieb Engelein
Am letzten End die Seele mein
In Abrahams Schoß tragen,
Den Leib in seim Schlafkämmerlein
Gar sanft ohn eigne Qual und Pein
Ruhn bis am jüngsten Tage!
Alsdenn vom Tod erwecke mich,
Dass meine Augen sehen dich
In aller Freud, o Gottes Sohn,
Mein Heiland und Genadenthron!
Herr Jesu Christ, erhöre mich, erhöre mich
Ich will dich preisen ewiglich
10. Zugänge und Wirkungen
Wenn wir die Kirchenmusik Bachs hören und verstehen wollen, dann begeben wir uns zurück in vergangene Zeiten, zu denen wir sonst keinen Zugang mehr haben. Wir blicken zurück hinter den Durchbruch der Moderne im Denken und Leben Europas. Die Frage ist, ob das überhaupt gelingen kann. Wenn wir Bach hören, dann haben wir vorher längst Beethoven und Brahms gehört. Die Beatles sind uns vertraut. Lenas Schlager dudeln aus allen Lautsprechern. Wir kennen den Klang von Presslufthämmern und startenden Flugzeugen. Leise Töne müssen wir erst entdecken.
Unser Hören ist vorbelastet. Aber unser Musizieren ist es auch. Wir können uns kaum vorstellen, wie die Johannes Passion bei ihrer ersten Aufführung geklungen hat. War das musikalische Erscheinungsbild des Thomanerchores wirklich so dürftig, wie Bach selbst das in seiner Denkschrift im Jahre 1730 an den Rat der Stadt Leipzig geschrieben hat? Viel wissenschaftlicher Fleiß und viele praktische Untersuchungen haben versucht, der Spielweise, dem Klang und der Bauart der Musikinstrumente des frühen 18. Jahrhunderts auf die Spur zu kommen. Aber haben sie wirklich so geklungen, wie professionelle Musiker, die ausnahmslos zunächst an „modernen“ Instrumenten geschult worden sind, sie heute klingen lassen?
Das Erstaunliche ist – und darin unterscheidet sich unsere Zeit wohl auch von allen vorigen Zeiten, dass diese Musik aus dem 18. Jahrhundert bei uns in einer Weise aufgeführt und rezipiert wird, wie das bei zeitgenössischer „klassischer“ Musik so nicht der Fall ist. Bachs Musik klingt nach wie vor – ja er klingt heute weiter als sie zu seinen Lebzeiten geklungen hat. Wir werden noch darauf zurückkommen und fragen, woran das liegen könnte.
Es liegt gewiss nicht an der Sprache der Texte. Die Sprache des 17. und des 18. Jahrhunderts ist uns fremd. Wir mögen den barocken Schwulst nicht mehr, viele Bilder bleiben unverständlich, viele Ausdrücke umständlich und verschroben. Am 27. April 1827 schreibt der Leiter der Berliner Singakademie Karl Friedrich Zelter (1758-1832) an Johann Wolfgang von Goethe (1749- 1832).
„Das größte Hindernis in unserer Zeit, liegt freilich in den ganz verruchten deutschen Kirchentexten, welche dem polemischen Ernste der Reformation unterliegen, indem sie durch einen dicken Glaubensqualm den Unglauben aufstören, den niemand verlangt. Daß ein Genie, dem der Geschmack angeboren ist, aus solchem Boden einen Geist aufgehen lassen, der eine tiefe Wurzel haben muß, ist nun das Außerordentliche an ihm...“
Hinter dieser Aussage steht die Vorstellung, man könne unterscheiden zwischen dem idealen Gehalt der Bachschen Musik und der historischen Zufälligkeit ihrer Textgestalt. Besonders die Arbeit Albert Schweitzers hat gezeigt , dass dieses so nicht möglich ist. Es gibt bei Bach eine Wort-Ton-Beziehung, die nicht aufgelöst werden kann: Es ist Musik auf diese Texte und es sind Texte für diese Musik. Dass sie uns bisweilen fremd sind, steht außer Frage, und man wird die Fremdheit nur dann überwinden können, wenn man die Texte sieht als Glaubensaussagen von Menschen, die vor uns gelebt und geglaubt haben, die eine andere Sprache und einen anderen Horizont hatten. Und man wird herausfinden, wie sie sich mit ihren Sprachbildern auf die Bibel beziehen und die Bibel wieder aus der Vergessenheit hervorholen. Man wird auch entdecken, wie ihre fremd anmutende Emotionalität eigene Zugänge zu den oft verschlossenen Türen des Glaubens schaffen kann.
Über alle immer wieder bewiesene Aktualität hinaus ist die Johannespassion von Johann Sebastian Bach ein Werk, das nahezu 300 Jahre alt ist. Sie hat überlebt. Die meisten Texte und Musiken jener Zeit haben es nicht. Sie ist auch ein historisches Dokument und will auch als solches angesehen und aufgenommen werden.
Historische Arbeit ist immer Annäherung – und niemand kann genau sagen, wie weit diese Annäherung reicht. Das macht auf der einen Seite eine Kopie oder exakte Wiederbelebung dessen, was einmal gewesen ist, unmöglich, das eröffnet auf der anderen Seite aber auch Freiheiten des Verständnisses, der Deutung, der Interpretation. Im Blick auf die Bachsche Johannes Passion heißt das: Wir kennen ihren Text, den Bibeltext, den Text der Choräle und Chöre, der Rezitative und Arien, und wir kennen die Partitur, manche Spuren können wir verfolgen, manche Sinnzusammenhänge erschließen.
Aber dennoch muß jede Generation, jeder Interpret, jeder Chor und jeder Solist, jedes Orchestermitglied und auch jede Hörerin und jeder Hörer seine eigene Johann es Passion immer wieder „erfinden“. Es gibt keine Dogmen darüber, wie die Passion letztgültig aufzuführen ist. Es gibt das Wagnis der Aufführung Alter Musik, und es ist erstaunlich, wie diese Musik über die Zeiten hinweg wirkt, wie Menschen durch sie angerührt werden und wie sie in diesem ästhetischen Kontext mit den grundlegenden Texten und Aussagen des Christlichen Glaubens in Kontakt gebracht werden.
Ob die Musik letztlich die Brücke zwischen der Botschaft des Johannesevangeliums und den Zeitgenossen schlagen kann, das bleibt menschlichem Einflussvermögen entzogen, genau wie die Wirkung der Predigt und der Schriftauslegung nicht in den Händen der Predigenden liegt. Aber wie der Prediger und die Predigerin dennoch Sonntag für Sonntag verantwortet das ihre sagen, so sagt es die Johannes Passion auch. Dabei transportiert sie durchaus auch Zeitgeschmack und zeitlich bedingte theologische Färbungen. Aber das tun wir aber mit unserem Reden auch.
Erstaunlich bleibt der musikalische und theologische Gehalt, der die Zeiten überdauert hat. Und sie hat die Zeiten nur in dieser unlöslichen Verbindung von Text und Musik, von Inhalt und ästhetischer Form überdauert. Und sie wird auch nur in dieser Verbindung bleiben. Die Johannes Passion von Johann Sebastian Bach ist ein Dokument und ein lebendiges Zeugnis des christlichen Glaubens. Es kommt darauf an, sie so wieder und wieder zum Klingen zu bringen und zu hören.
Halle, den 21. März 2011 (326. Geburtstag Johann Sebastian Bachs)
Domprediger Martin Filitz, Halle