Schuldig bleiben und gerechtfertigt sein

Notat to go. Von Barbara Schenck

Der Denker von Auguste Rodin; Foto: Nicolás Pérez / Wikipedia

Als Jugendliche hab‘ ich mich schuldig gefühlt.

Nicht etwa, weil ich meinen Eltern das Leben zur Hölle machte mit so abstrusen Idee wie als 16jährige per Velo mit einer Freundin nach Amsterdam zu fahren, nur noch Obst zu essen und die Nächte bei einem noch verrückteren Freund zu verbringen. Nein, der Kummer meiner Eltern plagte mich nicht, aber: die weltweite Ungerechtigkeit, der drohende Atomkrieg, verhungernde Kinder.

Was rechtfertigt mein Leben in einem reichen Land? Aussteigen als Selbstversorgerin auf einem Biohof oder Entwicklungshelferin werden, das waren die Alternativen. Meine jugendliche Variante der Rechtfertigung des eigenen Lebens.
Es kam anders. Irgendwie schrumpfte die Sorge um eine bessere Welt und die Arbeit auf dem Biohof war auch viel zu anstrengend. Jedenfalls zog ich das Theologiestudium vor. Und vielleicht war der gnädige Gott nicht ganz „schuldlos“ daran, dass das Lebensschuldgefühl sich verflüchtigte.

Jetzt las ich Martin Walser mit seinem Bedauern, die Frage nach der Rechtfertigung sei in zeitgenössischer Gesellschaftskritik zu dem bescheidener Anspruch geworden: „Wer hat recht?“. Pflicht und Arbeit hätten die Menschen in Rechtfertigung verwandelt. Heute genüge es, dass es einem gut gehe, dann sei der Rechtfertigungsbedarf schon gedeckt.

Die Qualen eines alternden Herrn!, so mein erster Gedanke. Längst hatte ich gelernt als Ziel der Rechtfertigung die Heiligung zu würdigen, das gute Leben im Bund mit Gott und seiner Weisung, die Frage zu stellen: Wie kommt Gott zu seinem Recht, und wie die Menschen, die Unrecht tun? Wie kann ich fröhlich im Glauben meine Straße ziehn?

Die „Überflüssigen“ sind gerechtfertigt, na klar, das ist die moderne Variante der Rechtfertigungslehre. Ich muss meinen „Wert“ als „Gotteskind“ doch nicht selbst beweisen und schon gar nicht in „Arbeitsleistung“. Nun ja. Wie war das noch, als ich selbst arbeitslos war? Hab‘ ich mich damals nicht auch recht überflüssig gefühlt? Ganz egal, was Gott darüber urteilte?

Schreibend sich selbst zu ertappen, dazu nützt ein Selfie wie diese Kolumne. Die Rechtfertigung der „Überflüssigen“ – als Bekenntnis geht sie mir leicht über die Lippen, aber im gefühlten eigenen Leben kommt sie nicht an. Es sei denn, die vermeintlich „Überflüssigen“ sind die anderen.

Bei den menschlichen Unzulänglichkeiten angelangt, sei nun auch noch dies gesagt: Die Variante von Rechtfertigungslehre, die Kurt Marti dichtete und ich meiner Vikariatsgemeinde zum Abschied sagte, gefällt mir immer noch:
„Manchen bin ich einiges, einigen bin ich vieles schuldig geblieben. Und die Zeit läuft davon. Wessen Liebe kann das noch gut machen? Die meine nicht. Nein, die meine nicht.“

Literatur
Andrea Bieler, Hans-Martin Gutmann, Rechtfertigung der „Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008
Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Hamburg 2012

 

Barbara Schenck, 4. Juni 2014