Den Begriff habe ich heute in einem Tweet gelesen. Ich weiß nicht, wie lange er im Internet schon kursiert. Vielleicht ist er auch gar nicht so neu. Ich finde das Wort „postfaktisch“ jedenfalls sehr treffend. Die Wortschöpfung trifft sich nämlich mit einer Beobachtung, die gerade an vielen Stellen zu machen ist: Es geht heute in Diskussionen nicht mehr um Fakten, sondern nur noch um Meinungen und ums Rechthaben. Eine Position zu haben schützt davor, die Realität wahrnehmen zu müssen.
Die Szene im „Morgenmagazin“ mit dem Noch-Generalsekretär der CSU Andreas Scheuer und der Journalistin Christiane Meier war der Burner in allen Politshows und sozialen Medien: Das Zitat aus dem Grundgesetz über das Asylrecht wollte der studierte Politikwissenschaftler geradezu störrisch als „Meinung“ der Moderatorin abtun.
Geradezu unerträglich ist für mich die Sendung „Hart aber fair“, die mit ihrem Faktencheck zwar immer wieder den Anschein von Seriosität erwecken will. Doch die Auswahl der Gäste und die Diskussionsführung gehen genau in die andere Richtung: Den Streit mit noch so abstrusen Argumenten als Show zu inszenieren.
Wundert es da, dass sich auch „besorgte Bürger“ über alle Tatsachen hinwegsetzen und vor laufenden Kameras abenteuerliche Dinge über Flüchtlinge erzählen? Wenn Angst ein Argument ist, das überhaupt nicht mehr sachlich begründet werden muss, dann öffnet das Tür und Tor für weitere unsachliche Argumente. Am Ende dann auch für Totschlag-Argumente – im wahrsten Sinn des Worts.
Viel mehr als der IS-Terror zerstört diese Diskussionskultur, die eigentlich keine mehr ist, unsere Gesellschaft. Denn sie verhindert die Verständigung. Gefühle sind die neuen Argumente. Fakten? Will ich nicht hören. Wie soll man auf Leute zugehen, mit ihnen ins Gespräch kommen, die sich der Realität verweigern, und darin tagtäglich von prominenter Seite Unterstützung bekommen?
Es hilft wohl nichts anderes, als die Kräfte der Vernunft zu bündeln – auch über ideologische Grenzen hinweg – und nicht nachzulassen im Argumentieren mit Fakten. Keine Frage, dass im Gespräch immer Gefühle, Erfahrungen und ideologische Prägungen eine Rolle spielen. Und ja, die Kommunikationstheoretiker belächeln mitunter den Versuch, auf der Sachebene Fortschritte erzielen zu wollen. Aber es ist die einzige Hoffnung.
Für die Kirchen heißt das, dass diese Loslösung von der Vernunft als ein Problem und eine Herausforderung für die Verkündigung erkennen müssen. Zum Glück tun sie das zunehmend. Der Glaube an Gott ist unauflöslich an die Vernunft und den ernsthaften Diskurs gebunden. Die Dankbarkeit, die uns als Christen antreibt, der Glaube an die Liebe Gottes zu allen Menschen, ist keine Gefühlsduselei, sondern hat konkrete Konsequenzen. Unser Glaube schafft Fakten, prägt Meinungen, nimmt Ängste.
Georg Rieger