Es war nur eine Kurznachricht – aber sie hat eine breite Diskussion ausgelöst. Es geht um die wichtige Frage nach der „politischen Predigt“. Verfasser des Tweets war der Chefredakteur der WELT, Ulf Poschardt. Die Predigt, die er gehört hat, hielt der Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Berlin-Nikolassee, Steffen Reiche. Poschardt fragte in seiner Kurznachricht danach, wer noch freiwillig in den Gottesdienst gehen sollte, „wenn er am Ende der Predigt denkt, er habe einen Abend bei den Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht.“
Ich habe diese Predigt gelesen und bin als professionelle Predigthörerin irritiert. Diese Predigt kann ihrem Anspruch politisch zu sein, nicht genügen. Ich will zwei Beispiele nennen: Wenn ich in dieser Predigt aufgefordert werde: „beende die tötende Kraft der Gewalt, indem du ihr die Spitze nimmst – so wie es Franziskus, Mahatma Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela, die Bürgerbewegung in der DDR oder Mutter Teresa gemacht haben“, dann stehe ich einigermaßen eingeschüchtert vor dieser Heldenphalanx, in die Mutter Teresa, die als Friedensaktivistin im engeren Sinne nun nicht gerade bekannt ist, wohl aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit auch noch mit hineingeraten ist. Mit meinem Leben hat das rein gar nichts zu tun. Die ethische Forderung ist praktisch unerfüllbar und erzeugt oder verstärkt höchstens das Bewusstsein meiner eigenen Unerheblichkeit. Nach meiner Erfahrung ist das ein Grundproblem vieler Predigten, die politisch sein wollen. Weit gefährlicher noch scheint mir ein anderer Zug in Steffen Reiches Predigt zu sein: Seine Kritik am Islam beginnt er mit der Diffamierung des Propheten Mohammed als pädophil, indem er dessen neunjährige Ehefrau erwähnt. Fortschritte im Dialog mit dem Islam erreichen wir aber nur in einem fairen Umgang miteinander.
Und auch, dass Reiche Donald Trump als nuschelnden Tattergreis beschreibt, „der nicht mal seine Haftcreme für seine x-ten Zähne richtig zu verwenden weißt“, mag ein Bedürfnis nach Herabwürdigung befriedigen, trägt aber wenig dazu bei, die Gefahren der Trump-Regierung realistisch wahrzunehmen. Diese Predigt ist daher weitaus weniger politisch, als der Prediger selbst glaubt. Gewaltlosigkeit und Feindesliebe, für die Reiche selbst als Merkmale der Nachfolge Jesu geworben hatte, gelten auch für die Sprache der Predigt. Auch ein politischer Prediger sollte seine Gegner nicht herabwürdigen, gerade um politisch wirksamer zu sein.
Wie Ulf Poschardt hätte ich mich als Predigthörerin über diese wohlfeile „politische“ Predigt sehr geärgert. Die grundsätzliche Frage, ob Predigten politisch sein sollen, hatte sich in der Diskussion jedoch gleich vom konkreten Beispiel aus Berlin-Nikolassee gelöst. Predigt kann gar nicht unpolitisch sein. Denn in der Predigt wird von Gott geredet und von der Welt und den Menschen, wie sie nach Gottes Willen sein sollen. Zu unserer Wirklichkeit steht das oft in scharfem Gegensatz. Das kann ich in der Predigt nicht verschweigen, wenn ich nicht völlig weltfremd von Gott reden will. Aber Gott selbst ist parteiisch. In der Bibel lese ich im Alten wie im Neuen Testament von der Hoffnung auf das Leben gegen den Tod, auf Freiheit statt Unterdrückung, auf Frieden statt Gewalt, auf Gerechtigkeit statt Anhäufung von Besitz. Mit Parteipolitik hat das nichts zu tun.
Diese biblische Hoffnung muss ich mit den Herausforderungen unserer Gegenwart in ein Verhältnis setzen. Wer politisch predigen möchte, muss seinen Hörerinnen und Hörern ein eigenes Urteil zutrauen. Was soll ich als Christ, als Christin zu dieser oder jener politischen Frage sagen? Wie soll ich mich verhalten? Welche Orientierung gibt mir dabei Gottes Wort? Diese schwierigen Fragen können in einer politischen Predigt nicht propagandistisch beantwortet werden. Und ich muss sie mir auch selbst stellen. In der Predigt gebe ich öffentlich Anteil an meinem Nachdenken darüber. Und hoffe, dass die Stimme der Wahrheit aus mir spricht.