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Vom Mitgefühl
Notat to go. Von Barbara Schenck
Wer kann schon wirklich weinen mit den Weinenden? Und was nützt es den Leidenden, wenn nun auch noch ich meine, an ihrem Unglück teilnehmen zu sollen?
Mit dem Kind könnte jedoch auch das Bad ausgeschüttet werden, mit dem Mitleid das Mitgefühl. Ist Mitgefühl nicht eine Tugend?
Nicht nur eine Empfindung, vielmehr auch eine moralische Pflicht sei das Mitgefühl, schreibt Daniel Barenboim. Mitgefühl sei nötig zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Der Dirigent mit einem israelischen und einem palästinensischen Pass zitiert Schopenhauer: „Nichts kann einen Menschen so leicht auf die Bahn der Gerechtigkeit zurückbringen, wie die Vorstellung der Sorge, des Herzeleids und der Wehklage des Verlierers.“
Wie steht’s eigentlich um das Wort Mitgefühl in theologischer Dogmatik? Papst Franziskus auf Lampedusa fällt mir als erster ein mit seiner Mahnung zum Mitgefühl gegenüber Menschen in Not.
Jetzt will ich natürlich auch einen reformierten Theologen, oder eine reformierte Theologin zitieren. Gähnende Leere. In meinem Regal stehen wohl die falschen Bücher. Oder ich suche nicht richtig. Nur das Zitat eines Zitats kann ich bieten: Die Barmherzigkeit (Gottes) sei die „Unterdrückung des Eifers durch Mitgefühl“. Das steht in der Karl-Barth-Gesamtausgabe. Barth zitiert Schleiermacher; auch in dieser Variante: Mitgefühl sei die Bereitung zum Eingang in „das Heiligtum des Friedens“.
Wer hätte das gedacht? Die Barthianerin freut sich, mit Schleiermacher einen reformierten Theologen zu haben, der das Mitgefühl nicht ignoriert.
Trotzdem: Im romantischen Gefühlstaumel zu versinken, das liegt mir kühlen Norddeutschen nicht. Ich brauch‘ doch ein wenig Distanz und finde, was ich suche. Beim Philosophen Martin Seel:
„Nur Personen, denen andere auf die eine oder andere Weise nahegehen, können auf Distanz zu ihren unmittelbaren Reaktionen ihnen gegenüber gehen. Nur Personen, die zu sich selbst in Distanz gehen können, können anderen trotz ihrer Distanz zu ihnen nahe zu sein versuchen.“
Für die fünf Sinne im Hier und Jetzt sag‘ ich‘s so:
Den, der mit Unrecht getan hat, zu verstehen und der, die mich verachtet, nahe zu sein, das muss ich mir nicht aufbürden. Aber: Ihre Tränen kann ich sehen.
Für den Kopf sagt’s Martin Seel:
„Ohne ein gewisses Maß an Gleichgültigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen gibt es kein Gefühl der Humanität.“
Quellen:
Daniel Barenboim, im Hamburger Abendblatt vom 25. Juli 2014, URL: http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article130536258/Es-gibt-keine-militaerische-Loesung.html?fb_action_ids=266000506936536&fb_action_types=og.likes
Friedrich Daniel Schleiermacher, Predigten zum 6. und zum 19. Sonntag nach Trinitatis, zitiert nach: Karl Barth: § 1 Die Sonntagspredigt der letzten Jahre. In Die Theologie Schleiermachers 1923/1924 (GA II.11).
Martin Seel, 111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue, S. Fischer Verlag 2012, Zitate S. 33.34.
Barbara Schenck, 30. Juli 2014