Wir sind nicht das Establishment!

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger


Foto: G. Rieger

Unter all den sprachlichen Neuentdeckungen und Wiederbelebungen, die uns die besorgten Wutbürger beschert haben, finde ich einen immer wieder aufs Neue befremdlich. Da ich mich durchaus angesprochen fühle, wenn es gegen Toleranz und Gutmenschentum, politische Korrektheit und Gender-Gerechtigkeit, Willkommenskultur und Religionsfreiheit geht, muss ich mich wohl zum Establishment zählen.

Das ist hart. Denn auch wenn ich den jugendlichen Außenseiterkomplex schon einige Zeit überwunden habe, fühlte ich mich bisher keineswegs als Teil einer Machtelite. Eigentlich eher als Teil einer Opposition, die zwar Federn gelassen, aber noch keineswegs aufgegeben hat, für mehr soziale Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Umweltschutz, Bürgerrechte und eine offene Gesellschaft einzutreten. Die Liste der Themen wäre beliebig verlängerbar. Doch nun ist das alles angeblich schon längst Mehrheitsmeinung – Mainstreaming. Ich habe es wohl nur nicht gemerkt.

Interessant nachzulesen ist die Herkunft und Definition des Begriffs durch Norbert Elias und John L. Scotson in The Established and the Outsiders aus dem Jahr 1965. Der Professor für Soziologie und sein Student hatten in einem Vorort von Leicester beobachtet, wie Neuzugezogene von den Ortsansässigen als Bedrohung wahrgenommen und in die Rolle von Außenseitern gedrängt wurden. Die Etablierten bestimmten die Regeln und ließen die Neuen nicht teilhaben. Des Weiteren beobachteten die Forscher, dass die Außenseiter sich in ihre Rolle fügten und sich zum Teil so verhielten, wie die Etablierten es verurteilen. Elias bringt es mit dem Satz auf den Punkt: „Gib einer Gruppe einen schlechten Namen und sie wird ihm nachkommen.“

Es scheint also etwas dran zu sein: Die Spaltung der Gesellschaft, die wir gerade erleben, wird durch die Stigmatisierung der rechten Außenseiter noch befördert. Um im Bild zu bleiben sind vielleicht tatsächlich „wir“ fortschrittlich Denkenden schon länger in dieser globalisierte Wirklichkeit angekommen und haben vergessen, alle mitzunehmen. Der Soziologe Elias macht das Selbstwertbedürfnis als den Dreh- und Angelpunkt aus. Und das hat unsere liberale und offene Gesellschaft tatsächlich nicht allen zugestanden, sondern Viele auch abgehängt – und zwar nicht nur ökonomisch, sondern auch was Bildung und die Einbeziehung in den politischen Diskurs angeht.

Was nun in den USA passiert ist, hätte den 1990 gestorbenen Norbert Elias sicherlich nicht weniger verwundert als uns. Zwar hat er auch diesen Prozess beschrieben, dass die Außenseiter die Macht übernehmen und sich dann an den Etablierten rächen. Deren Verhaltensmuster brechen dann zusammen und sie lernen andere Verhaltensmuster, um wieder am Erfolg teilhaben zu können. So ist es schon oft geschehen.

In allen übertragenen Fällen geht Elias davon aus, dass es sich bei den Etablierten um die Erhalter, die Konservativen, ja Reaktionäre handelt – eben um die klassischen Etablierten, die um ihr althergebrachtes Weltbild kämpfen. Der Spontispruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ ist symptomatisch für die übliche Blickrichtung beim Gebrauch dieses Wortes.

Dass Liberalität, Emanzipation und Internationalität Merkmale des Establishments sein sollen, und alte Werte wie das klassische Familienideal, Fremdenfeindlichkeit und der grenzbewachte Nationalstaat als Befreiung aus den Zwängen der Meinungsdiktatur verkauft werden, das hätte sich der 1933 aus Deutschland emigrierte Sohn jüdischer Eltern nicht träumen lassen. Und es ist wohl auch das, was die als Establishment beschimpften immer noch sprachlos sein lässt. Insofern ist der Coup gelungen: Die Rückwärtsgewandten haben sich das Etikett der Fortschrittlichen angeheftet, indem sie den Spieß umgedreht haben.

Von einer Machtübernahme kann in Deutschland ja noch lange nicht die Rede sein. Doch verhalten sich bereits jetzt Viele wie Elias es beschreibt: so nämlich, wie es die Gegenseite erwartet. Statt neuer Leidenschaft für die Demokratie, wird munter an deren Stellschrauben enger gedreht. Und statt ein flammendes Plädoyer für die Menschenfreundlichkeit zu halten, werden plumpe Vorurteile befördert.

Es muss aber doch möglich sein, diesem Versuch der Stigmatisierung zu widerstehen! Nein, wir sind nicht das Establishment und lassen uns das auch nicht einreden. Wir lassen Toleranz und Humanität, Offenheit und Freiheit nicht in Verruf bringen. Diese Werte, die sich unsere Gesellschaft erkämpft, erarbeitet und entwickelt hat, sind nicht zu überwinden, sondern besser und allen verständlich und zugänglich zu machen.

Georg Rieger