Gute Hirten und die kirchliche Führungskrise

''Schaftum aller Hirten'' - ''Hirtentum aller Schafe''

Eine Predigt zu Hesekiel 34 von Ilka Werner, Neuss

„Und des Herrn Wort geschah zu mir:
Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.
Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.
Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.

Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.
Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist; (...)
Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.“
Hesekiel 34, 1-2.10-16.31

Liebe Gemeinde,

wir kennen das Bild vom guten Hirten.
Was ein guter Hirte tut, ist schnell auf den Punkt gebracht: Er isst keine Lammkoteletts.
Er schlachtet nicht seine Schafe für seine Bedürfnisse, sondern lässt sein Leben für sie.
Er lebt nicht von seiner Herde, sondern verzehrt sich für sie.

Das ist der gute Hirte.

In unserem Text geht es um die schlechten Hirten, die, die nicht tun, was der gute Hirte tut, die, die Schafe fressen und sich selbst weiden. Dem Propheten Hesekiel wird die Erkenntnis offenbart: Die Hirten des Volkes Israel sind schlechte Hirten. Wenn diese Erkenntnis offenbart werden muss, liegt sie wohl nicht offen zu Tage. Aber wer genauer hinguckt, wer hinguckt mit der Vorstellung vom guten Hirten im Kopf und im Herzen, erkennt: Israels Hirten sind schlecht. Sie leben von Lammbraten und kümmern sich nicht: „Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.“

Wer genauer hinguckt, stellt fest: Das Volk Israel hat eine Führungskrise.

Genauer gesagt: eine geistliche Führungs-krise. Denn wenn Hesekiel von Hirten spricht, gibt er ja nicht ein paar wichtige Tipps für einen verbreiteten Berufsstand, sondern hält der politischen wie religiösen Führungsschicht den Spiegel vor. Oder eben das Bild des guten Hirten, der Gott selbst ist. Und im Vergleich zu diesem Bild kommt die Führungsschicht schlecht weg: sie kümmert sich um sich selbst, und nicht um die Herde, die Leute, die ihnen anvertraut sind.

Wir könnten jetzt in die Geschichte eintauchen und überlegen, wie die Verhältnisse waren zur Zeit Hesekiels, wen er so meint und was die alles so angestellt haben und wie sie aus der Misere herausgekommen sind, das wäre sicher interessant.

Ich habe aber viel mehr Lust dazu, mit Ihnen zusammen als Gemeinde von heute in den Spiegel zu gucken, und auf das Bild vom guten Hirten.
Denn in gewisser Weise hat die Kirche heute wie das Volk Israel damals eine Führungskrise. Klar, damals war alles ganz an-ders und wir sind nicht Israel und können diese Texte nicht über mal rund zweieinhalbtausend Jahre hinweg einfach auf uns beziehen. Aber – wenn uns der historische Abstand bewusst bleibt, warum eigentlich nicht?

Probieren wir es mal, gucken wir in den Spiegel und auf das Bild des guten Hirten, als Gleichnis, als Anspruch, als Zuspruch.

Drei Blicke, drei Perspektiven also:

Blick 1: Die Bibel benutzt das Hirtenbild gern als Bild, als Gleichnis fürsorglicher Leitung. Hier bei Hesekiel haben wir es als prophetische Kritik, im Neuen Testament kommt es im Gleichnis vom verlorenen Schaf vor, Jesus benutzt es noch öfter, auch, wenn er Petrus beauftragt: „Weide meine Lämmer“. Klar ist: der eine gute Hirte ist Gott bzw. Jesus. Menschen, auserwählte Menschen sollen für und mit ihm und in seinen Namen Hirten sein, für die Herde da sein.

Menschen haben das gemocht, diesen Hirtenauftrag, und die kirchlichen Amtsträger und Amtsträgerinnen lassen sich gern Pastor und Pastorin nennen, was ja nichts an-deres heißt als Hirte. Es ist ja auch ein wunderbarer Titel. Leider ist das Bild vom Pfarramt als Hirtenamt ein bisschen verkitscht und gleichzeitig angestaubt. Da stellen wir uns vor, wie ein freundlicher Mensch mit ebenso freundlichen Worten die Zweifel der anderen beruhigt. Wie der Pfarrherr seine Pfarrkinder durchs Leben leitet. Oder wir wissen nicht mehr so recht, was wir uns vorstellen sollen. Das Bild ist unscharf geworden: Wer wäre eigentlich Hirte? Nur die Pfarrer und Pfarrerinnen? Presbyterinnen? Mitarbeiter? Verlangt das Hirtenbild eine Pastorenkirche? Wir wissen nicht mehr so recht, was wir uns vorstellen sollen.

Hirtenarbeit ist damals wie heute harte Arbeit. Verlorene Schafe warten nicht geduldig auf grünen Auen, bis sie gefunden werden. Verlorene Schafe springen über Stock und Stein, durchs Unterholz und durch Dornengestrüpp, und brüllen dann unentwegt nach dem Hirten. Sie machen Krach und Dreck, und wenn man sie findet, verweigern sie störrisch jeden Schritt. Es ist auch nicht mehr bloß eins von hundert Schafen verloren, irgendwie ist fast die halbe Herde stiften gegangen, und die Hir-ten, na ja, auch von denen gibt es insgesamt weniger als früher, die kommen kaum nach, die verbliebenen Schafe zu hüten, geschweige denn dass sie Zeit haben, in den Bergen herumzustrolchen, um die Abtrünnigen wieder zu finden. Selbst ein wirklich redlicher Hirte und eine wirklich tüchtige Hirtin entspricht kaum dem Bild vom guten Hirten.

Allerdings auch nicht Hesekiels Spiegelbild des schlechten Hirten, der sich auf Kosten der Herde rund futtert und reich wird. Das nun nicht. Korruption ist nicht das Problem. Unsere Führungskrise funktioniert anders: zu wenig mutige Hirten und Hirtinnen, zu viele streunende und bockige Schafe, zu unklare Vorstellungen vom Bild eines guten Hirten.

Da können wir vielleicht einen Schritt weiter kommen:

Blick 2: Das Bild des guten Hirten als Anspruch.

Erinnern sie sich an das Gleichnis vom verlorenen Schaf? Da lässt der Hirte 99 Schafe allein in der Wüste, um das eine zu suchen, und als er mit dem einen wiederkommt, sind die anderen noch da. Wir wissen nicht, ob sie Abenteuer zu bestehen hatten mit Wölfen oder mit Jägern, die ihnen auflauerten, aber die Herde war gut genug organisiert, zusammenzubleiben, auch ohne den Hirten.

Das sind, mit Verlaub, unsere Gemeinden oft nicht. Oder sie tun so, als wären sie es nicht. Oder ihre Hirten – ich und andere - haben sie immer so gehütet, dass sie es nicht allein schaffen. Wie dem auch sei: Heutige Hirten und Hirtinnen neigen dazu, sich unverzichtbar zu machen. Ohne sie soll die Herde zerbrechen. Durch diese Gewissheit fühlen sie sich erfolgreich. Der Anspruch aber an gute Hirten und Hirtinnen ist höher: sie sollen für die Herde wirken, und nicht für sich. D.h., sie sollen so leiten, dass die Herde auch funktioniert, wenn sie einmal weggehen. Das erfordert eine große innere Stärke und Freiheit, die man nicht so ohne weiteres fordern kann, die aber für einen guten Hirten nötig ist.

Es gibt aber noch einen Grund, warum die heutigen Gemeinden wohl nicht so ohne weiteres in der Wüste warten würden, wenn der Hirte mal weg geht. Dieser Grund stellt ein noch größeres Problem dar: kaum jemand will mehr Schaf sein. Will sagen: kaum sind die Hirten weg, wollen die meisten Schafe selber Hirte sein. Und suchen sich ein paar dumme Lämmer und auf geht’s – vermeintlich - Richtung Oase. Ein paar alte Böcke rangeln mit ihresgleichen darum, wer wohl der Stärkste ist, und merken nicht, dass sie gefährlich nah an den Abgrund geraten. Usw., Sie können sich den Rest selber vorstellen. Also: auch, ob eine Herde sich führen lässt, zeigt sich, wenn der Hirte den Rücken zeigt. Und sich führen lassen, und ein Teil der Herde bleiben, erfordert eine große innere Unabhängigkeit und Demut, die man nicht so ohne weiteres fordern kann, die aber für ein gutes Schaf nötig ist.

Sie merken, was wir brauchen als Kirche heute: dienende Leitung und die Bereitschaft sich leiten zu lassen. Klare Hirten- und Schafrollen. Sie merken auch, dass das Bild vom Pastor als Hirten und der Gemeinde als Schafen nicht reicht, mindestens Mitarbeitende und Presbyterinnen sind ja auch Hirten, oder Schäferhunde... Aber das will ich nicht auf die Spitze treiben, jedes Bild bricht irgendwann einmal zusammen.

Der Anspruch ist klar: Wenn die Hirten selbstlos leiten und die Herde sich führen lässt, dann gelingt es, das „kümmern“: das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten.

Aber wie können wir, als Hirten oder als Schafe, diesem Anspruch gewachsen sein?

Indem wir – 3. Blick – sorgsam auf den Zuspruch hören:

Gott selbst ist der gute Hirte. Gott selbst ist der gute Hirte, und er ist es so, dienend, kümmernd, dass er sich, wenn es sein muss, für seine Herde zum Schaf, zum Opferlamm machen lässt. Gott ist so der gute Hirte, dass er sich nicht scheut, Schaf zu sein. Das Bild bricht hier zusammen, das muss auch so sein, denn hätten Gleichnisse nicht ihre Grenze, würde man sie nicht mehr als Gleichnis erkennen und mit der Realität verwechseln und sich – am Ende - Gott allen Ernstes mit Hirtenstab und Bocksfüßen vorstellen. Und er würde uns vor lauter Gleichnisbegeisterung zum Teufel.

Also: das Hirtenbild bricht zusammen, wenn der Hirte sich zum Schaf machen lässt.

Aber aus dem zusammengebrochenen Bild lassen sich zwei Schlüsse ziehen:

Der eine, die Ostergeschichte: Wenn sich Gott in Jesus zum Opferlamm machen lässt und wenn sich Gott am Ostersonntag als Herr über den Tod erweist, dann erleben wir: der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Das ist nicht nur so dahin gesagt. Das ist geschehen und nicht zu vergessen: Wir sind wirklich behütet – auch durch Tod und Todesgefahr hindurch. Wir Menschen, die die Herde Gottes sind, Juden und Christen und wer sich sonst von Gott angesprochen weiß, wir sind behütet, wir sind keine unbehütete Herde, Hirten- und Führungs- und Kirchenkrise hin oder her. Das bleibt: Gott ist der gute Hirte, hat sich längst und immer wieder erwiesen als der, der für und nicht von der Herde lebt, und sich für sie auch zum Schaf machen lässt. Solch ein Hirte wird er auch bleiben.

Und der andere Schluss, den wir ziehen können, im Blick auf die Kirche und ihre Führungskrise: Wenn Gott der gute Hirte ist und sich nicht zu schade ist, sich zum Schaf machen zu lassen, zerbricht auch das Pfarrer-Hirtenbild: Schaf sein und Hirte sein gerät ein bisschen durcheinander, Schaf sein und Hirte sein ist nicht mehr Berufs- oder Charakterbeschreibung, sondern Beschreibung von Beziehungen: Gegenüber Gott, dem guten Hirten, sind wir alle und sollen wir alle stolz und dankbar Schaf sein, uns führen und leiten, heilen und behüten lassen, ohne Unterschiede. Und so geleitet und behütet, sollen wir dann den anderen in der Herde gegenüber bereit sein zum Hirtenamt, zum führen und leiten, heilen und behüten. D.h. Pfarrer sind nicht Berufshirten, weil die anderen es nicht könnten, sondern aus pragmatischen Gründen, weil das Behüten verlässlich organisiert werden muss. Und den anderen gegenüber sollen wir auch alle, Pfarrer oder Presbyterin oder Gemeindeglied, bereit sein, Schaf zu sein, und uns ohne blödes Blöken führen und behüten zu lassen.

Eigentlich muss man von „Hirtentum“ aller Schafe und vom „Schaftum“ aller Hirten sprechen. Die Rollen können wechseln. Aber wenn wir sie haben, sollen wir sie ganz ausfüllen, und nicht immer in beiden und somit meist in der falschen stecken. Das können wir üben.

Und dann gilt der Auftrag an die Hirten uns allen: Das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten.

Und auch der entlastende Zuspruch gilt uns allen: Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.

Wir sind eine gut behütete Herde. Um einander gut zu hüten und geistlich zu leiten, müssen wir unterscheiden lernen, wann wir Schaf, wann wir Hirte sind. Und das lernen wir im aufeinander hören und im Hören auf Gottes Geist, im Gebet. Amen.

Predigt, gehalten am 8. Mai 2011


Dr. Ilka Werner, Berufsschulpfarrerin, Neuss