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Streit ums Tuch nach französischer Art
Mittwochs-Kolumne. Von Paul Oppenheim
In Frankreich scheint dagegen die juristische Lage klar zu sein: Die als laïcité (Laizität) bezeichnete Religionsabstinenz im öffentlichen Raum wird allenthalben zur Staatsdoktrin erhoben. Sie wird mit liberté, égalité, fraternité in einem Atemzug genannt. Unter Berufung auf dieses Prinzip ist das Tragen sichtbarer religiöser Zeichen in öffentlichen Räumen gesetzlich verboten. Daraus folgt, dass weder Schülerinnen noch Lehrerinnen in staatlichen Schulen das islamische Kopftuch tragen dürfen. Darüber hinaus verbietet ein französisches Gesetz das Tragen der Burka in der Öffentlichkeit. Dieses Verbot der Ganzkörper- sowie der Gesichtsverschleierung wurde inzwischen vom Europäischen Gericht für Menschenrechte in Straßburg für zulässig erklärt. Trotzdem kommt auch in Frankreich die Debatte um die Verhüllung der Frau nicht zur Ruhe.
Ausgerechnet an dem Tag, als ein islamistisches Mordkommando die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ überfiel, erschien in Frankreich der neueste Roman des Skandalschriftstellers Michel Houellebeck. Der inzwischen ins Deutsche übersetzte Bestseller „Soumission“ (Unterwerfung) beschreibt die sanfte Islamisierung Frankreichs. Die bürgerlichen Parteien unterstützen die Wahl eines muslimischen Präsidentschaftskandidaten, um den Sieg der rechtspopulistischen Front National zu verhindern. Eine moderate muslimische Partei stellt daraufhin in Frankreich die Regierung.
Franҫois, ein Literaturprofessor, der sich nicht besonders für Politik interessiert, beobachtet das Geschehen, aus der Junggesellenperspektive. Wenige Tage nach der Wahl bemerkt er, dass sich die Kleidung der Frauen verändert hat. Alle Frauen tragen Hosen. Kleider und Röcke sind im Straßenbild verschwunden, dafür hat sich die Kittelbluse durchgesetzt, die die weiblichen Konturen verhüllt. Darüber ist der Junggeselle ebenso wenig erfreut wie über die Studentinnen, die mit Ganzkörperverschleierung an seinen Vorlesungen teilnehmen. Trotzdem unterwirft auch er sich. Er konvertiert zum Islam, um seine Professorenstelle an der Universität zu behalten. Dabei sind Polygamie und die Rückkehr zum Patriarchat für ihn recht überzeugende Argumente.
Ein anderes Buch, das in Frankreich die Gemüter erregt, ist das neueste Werk des Gesellschaftsphilosophen Alain Finkielkraut. In „L‘identité malheureuse“ (Die unglückliche Identität) setzt auch er sich mit dem Wandel der französischen bzw. der europäischen Gesellschaft auseinander. Er beschreibt diesen Wandel als den freiwilligen Verzicht auf die eigene kulturelle Identität. In einem Kapitel unter dem Titel „Mixité française“ (französische Gechlechtermischung) widmet auch er sich dem Thema der weiblichen Kleidung. Mit Hose und Kopftuch setze sich das Prinzip der strengen Geschlechtertrennung durch. Die zivilisatorische Errungenschaft eines höflichen und angstfreien Umgangs zwischen Mann und Frau nach den Regeln der courtoisie und der galanterie drohe unterzugehen.
Diese nostalgische Klage aus dem Nachbarland über den allmählichen Untergang einer Lebensart stimmt nachdenklich. Es geht um mehr als ein Stück Tuch, und um etwas anderes als Religion. Es geht um eine besondere Form der Beziehung zwischen Männern und Frauen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in Westeuropa herausgebildet hat. Diese gesellschaftlichen Umgangsformen sind es, die man in Frankreich als savoir-vivre bezeichnet und die man als typisch französisch empfindet. Vielleicht wird darum der „Streit ums Tuch“ im Mutterland der Haute Couture besonders leidenschaftlich geführt.
Paul Oppenheim, 10. Juni 2015