Der Müden Kraft
Predigt zu Jesaja 40, 26-31 zum Sonntag Quasimodogeniti, 19. April 2020
Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: "Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber"? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Die Rückkehr aus dem Exil verzögert sich. Gespannt werden die Verlautbarungen der Regierenden verfolgt. Entstanden in den engsten Kreisen der Berater und Fachkundigen werden sie zu Maßnahmen, zu Anordnungen und Empfehlungen, ungeduldig erwartet von denen, die regiert werden. Ein Seufzen geht durch das ganze Land. Vieles weiß man noch nicht, aber eines ist schon sicher: Es gibt noch keine Rückkehr in die alten Verhältnisse. Die Einschränkungen gelten weiter, einige wenige Lockerungen sind unter Auflagen möglich. Die Aussichten sind insgesamt eher verhalten. Wie werden wir das Land, unser Land, vorfinden und die Menschen darin? Wie werden wir uns wiederfinden in dem großen „Danach“, für das es kein Datum gibt und keine Frist, die wir noch auszuharren hätten?
Es war zum Müde-Werden damals. Sie sind uns auf einmal seltsam nahe, die Menschen im Exil in Babylonien, so lange vor unserer Zeit, herausgeführt aus ihrem Land in eine fremde Umgebung, voller Hoffnung auf eine Rückkehr und ein Danach. Wir sind ihnen nahe, herausgeführt aus unserem Land, unserem Alltag. Eine andere Art Fremdheit, schlimmer noch als ihre damals. Denn wir wurden in keine Fremde geführt. Es ist unsere Heimat, in die wir verbannt sind. Leer und still die Straßen, die täglichen Wege nur eilig und auf das Notwendigste beschränkt. Menschen begegnen sich nur noch auf Abstand, die Hand geben, sich umarmen ist nicht erlaubt und selbst ein freundliches Lächeln muss hinter einer Maske verschwinden. So wird es bleiben, noch für Wochen, Monate vielleicht. Am Mittwoch saßen wir vor den Nachrichten, gespannt, bereit wie zum Start, nur um zu hören. Es wird sie nicht geben, die schnelle Rückkehr. Das „Danach“ ist bis auf weiteres verschoben. Die Kraft beginnt zu erlahmen. Es ist zum Müde-Werden.
Wir sind nicht die ersten und die einzigen, die müde werden. Es ging schon anderen Menschen zu anderen Zeiten so. Und wir sind auch jetzt nicht allein damit, denn es geht ja allen Menschen so, in unserem Land und auf der ganzen Welt. Niemand hat je so etwas erlebt, es ist für alle das erste Mal und keiner ist es gewohnt. Es ist, als wäre allen Menschen die Welt zur Fremde geworden.
Und in so einer Situation reichen die kleinen Antworten nicht mehr. Auch nicht die Antwort, dass es uns in unserem Land ja vergleichsweise mit am besten geht auf der ganzen Welt. Denn müde bis zur Verzweiflung muss man ja erst recht werden, wenn sich jetzt schon zeigt, wie dies überall am schlimmsten die Armen und Schwachen trifft.
Die Müden damals haben eine große Antwort bekommen, eine, die sie gezwungen hat, aufzublicken, anstatt immer nur auf Sicht zu fahren. Denn das ist nicht die Perspektive der Menschen, die zu Gott gehören. Ihre Perspektive ist eine andere: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen, seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt.“ Die müden Menschen damals in Babylonien waren schon fast so weit heruntergekommen, die dort herrschende Meinung zu teilen: Dass es himmlische Mächte gibt, verkörpert in Sonne, Mond und Sternen, funkelnd und fern über ihnen, feurig oder kalt, aber in jedem Fall ganz unberührt von dem Schicksal kleiner Menschen auf der Erde.
Aber so ist es mit ihrem Gott nicht. Gott war bei ihnen, unten auf der Erde. Gott hat sie aus der Sklaverei in Ägypten herausgeführt, all die Männer, Frauen und Kinder. Gott ist mit ihnen in der Wüste gewesen und später dann im Land der Verheißung. Und Gott ist auch jetzt bei ihnen in dieser Fremde, die sie so müde macht. Und so, wie Gott sie geführt hat, vollzählig, und sie mit Namen kennt, so macht er es auch mit Sonne, Mond und Sternen. Gott führt sie heraus und gibt ihnen Namen. Es gibt keine fremden himmlischen Mächte, funkelnd und fern, kalt und unberührt von den kleinen Schicksalen der Menschen. Es gibt nur Gott. „Hebt eure Augen in die Höhe und seht!“ Wo du auch hinblickst, da ist Gott, fern und nah zugleich und immer da.
„Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt.“ (Jes 40,28). „Weißt du nicht?“ Auf Hebräisch heißt das Halo? Und man sollte es übersetzen mit „Hallo? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?“. Das ist ein Hallo-Wach-Ruf an die Müden zu allen Zeiten. Gott wird nicht müde noch matt. Nie. Und Gott hat uns Menschen ja nach seinem Bild gemacht. Wir sind ihm ähnlich. Und das zeigt sich auch jetzt, in dieser fremden Zeit. Ich sehe neben der Müdigkeit so viel Kraft, an jedem Tag neu. Am Anfang, als alles so fremd und ungewohnt war, gab es häufig Streit, besonders dort, wo auf einmal alle den ganzen Tag zusammen waren, die Kinder zuhause, die Eltern im Home-Office. Jetzt schon sagen viele, dass es auch schön ist, einmal so lange als Familie zusammen sein zu können.
Am Anfang haben sich viele, besonders Ältere, vor der Einsamkeit gefürchtet. Und haben erlebt, wie viel mehr Aufmerksamkeit und Sorge füreinander es auf einmal gibt. Einkaufsservice, Kuchen im Treppenhaus und jeden Tag ein Anruf.
Am Anfang haben wir gedacht, wie es gehen soll, wenn Gottesdienste und Veranstaltungen in den Gemeinden lange Zeit nicht stattfinden können. Und dann gab es so viele Ideen und eine große Kreativität, um Gottes Wort auch unter diesen besonderen Umständen zu verkündigen. Wir haben neue Kraft bekommen. Uns sind Flügel gewachsen. Und wir vergessen auch nicht, dass wir von unserer eigenen Not absehen müssen und sie ins Verhältnis setzen zu anderer, viel größerer Not. Da müssen wir noch viel wacher werden.
Wie werden wir uns wiederfinden in dem großen „Danach“,
wie werden wir einmal auf diese Zeit zurücksehen, als wir fremd waren in unserem eigenen Land?
Ich glaube, wir werden uns nicht an die Müdigkeit erinnern.
Sondern an die Kraft, an die Flügel.
Was wir tragen konnten.
Und wie getragen wir sind.
Amen.
Kathrin Oxen, Moderatorin de Reformierten Bundes
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.
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