Steilküste
Predigt zu Hiob 19, 19-27 zum Sonntag Judika, 21. März 2021
Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Milde plätschern kleine Wellen und zeichnen Spitzenmuster in den nassen Sand. Zwischen Meer und Steilküste ein breiter Streifen Sand, darauf Fußspuren und Abdrücke von Pfoten. Noch sind die Menschen warm eingepackt, die Kinder mit ihren bunten Jacken und Mützen werfen ein Stöckchen für den Hund. Auslauf für alle, für Menschen und ihre besten Freunde. Frische Luft, rote Wangen und nachher Tee oder Kaffee und für die Kinder Kakao. Gerne blickt man aufs Meer, ruhig und glatt liegt es da, der Horizont eine gerade Linie ohne Unterbrechungen. Das Auge ruht sich auf daraus. Und die Seele baumelt daran.
Nicht so gerne blickt man auf die Steilküste auf der anderen Seite. Denn da sind die Kräfte zu sehen, die hier gewirkt haben. Als hätte man dem Land die Haut abgezogen, sind die Schichtungen des Bodens zu erkennen. Es gibt Abbrüche und Rutschungen. Da liegt schmutzige braune Erde im hellen Sand und viele Steine. Nackte Baumwurzeln greifen plötzlich ins Leere, wo früher ein Halt war. Baumstämme neigen sich bedrohlich, ihre Wurzelteller halb entblößt. An hohen Steilkanten warnen Schilder vor dem Betreten des Küstenstreifens. Wenn man dort überhaupt über das Geröll und die Steine klettern mag, droht Gefahr von oben. Da könnte es einen treffen.
Im Moment sehen wir nur Steilküste. Schon ein Strandspaziergang ist beinahe unmöglich geworden, wenn man nicht zufällig sehr nahe an der Küste wohnt. Nicht mal Tagestourismus ist erlaubt. Hinter uns liegt eine weitere Woche voller Hiobsbotschaften, steigende Zahlen, gefährliche Virusmutanten, ein Impfstoff, der uns schützen soll, birgt unbekannte Risiken und sowieso geht es mit dem Impfen so unerträglich langsam voran. Urlaub an der Küste oder anderswo zu Ostern wird immer unwahrscheinlicher. Wie eine Wand ragt das vor uns auf, wie eine Abbruchkante. Irgendwo dahinter muss es sein, das „normale“ Leben, aber wir sehen es nicht. Also weiter am Strand entlang und spüren, wie müde das alles macht. Als ob man viel zu lange durch zu tiefen Sand stapft. Das ist kein Spaziergang, bestimmt nicht.
Unwillkürlich denke ich an die nur allzu bekannte Geschichte von den Spuren im Sand. Die wurde gerne auch in Predigten verwendet: Da träumt jemand von Strandspaziergang mit Gott. Immer sind da zwei Spuren im Sand zu sehen. Immer ist Gott an meiner Seite. Und wenn in den schwersten Zeiten des Lebens nur eine einzige Spur zu sehen ist, dann natürlich nicht, weil durch sowas alleine durchmusst. Nein, dann hat Gott dich getragen. Auf den dazugehörigen Postkarten scheint die Sonne oder sie geht malerisch unter. Kleine Wellen plätschern und zeichnen ein Spitzenmuster in den trittfesten Sand, der perfekt zum Spurenmachen geeignet ist. Ich war schon immer ein bisschen misstrauisch gegen solche Postkarten. Als da nur eine Spur war – vielleicht war Gott gerade dann nicht da, war umgekehrt, abgebogen oder baden gegangen?
„Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen!“ Zum Glück sind seine Reden aufgeschrieben, Hiobs Reden. Sein Glaube ist Steilküste, ist Abbruch und Rutschung. Er sucht verzweifelt nach einem Halt und findet keinen. Er greift ins Leere, er sitzt auf dem Schutthaufen, der früher sein Leben war. Es kann ihn nicht mehr treffen. Es hat ihn schon getroffen. Die Worte Hiobs sind aufgeschrieben. Es sind die einzigen Worte, die man in den Felsen hauen kann, den all die Abbruchkanten und Steilküsten des Lebens freilegen. „Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus“ (Georg Büchner). Katastrophen, an denen niemand die Schuld ist, legen ihn frei, Zeiten wie unsere gerade, in denen die Welt ins Rutschen kommt. Über die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte gleichen sich die Versuche, ihn kleinzukriegen. Das gängigste Werkzeug dabei: Es wird schon irgendjemand daran schuld sein. Und wenn da niemand sein sollte, dem man die Schuld geben kann, dann liegt es wahrscheinlich doch an dir. Schau doch mal genauer nach, ob du vielleicht doch etwas falsch gemacht hast? Und ein anderes Werkzeug setzt man ungefähr so an: Du verstehst es jetzt noch nicht, aber du wirst bestimmt noch erfahren, wofür es gut ist.
Mit solchen Werkzeugen arbeiten die Freunde Hiobs. Und es ist, als stünden sie auf besonders trittfestem Sand dabei, höchsten von kleinen Wellen umplätschert, mit Blick auf das Meer und die gerade Linie des Horizonts. Von Hiob hinter ihnen an der Steilküste wenden sie sich lieber ab. Es ist nicht schön, so einen anzusehen, dem alles ins Rutschen gekommen ist. Aber Hiob ist trotzdem da und neben ihm der Felsen und er lässt sich nicht bewegen und nicht verrücken.
Was ins Rutschen gekommen ist, was jetzt im Sand liegt, was zu Staub zermahlen und einmal spurlos im Meer verschwinden wird, ist der Glaube an einen Gott, mit dem man Verträge machen kann. Die Schweizer Pfarrerin Marion Muller-Colard hat das erlebt, nachdem ihr wenige Monate alter Sohn lebensbedrohlich erkrankt war. Sie schreibt: „Manchmal haben wir, oft unbewusst, eine Vertragsbeziehung mit Gott. Und wenn das Wort „Gott“ keinen Sinn mehr für uns hat, dann haben wir ganz sicher eine Vertragsbeziehung mit der Gerechtigkeit. Was wird aus uns allen, wenn unsere Verträge gebrochen werden, ohne dass wir Zeit gehabt hätten, darüber nachzudenken, wer eigentlich genau die andere Partei ist?“
Auf unsere gegenwärtige Situation übertragen: Gegen wen wollen wir angesichts der Pandemie aufbegehren? Wer soll schuld daran sein? Sicher nicht andere Menschen, wie Politikerinnen und Politiker. Sie sind in der gleichen Situation wie wir alle, bloß mit mehr Verantwortung. Sie machen Fehler und treffen falsche Entscheidungen.
Aber sie sind trotzdem nicht schuld an allem. Und Gott als Vertragspartner ins Spiel zu bringen, traut sich an unserer Steilküste gerade auch niemand mehr. Wobei: Ist der heimliche Vertragspartner vieler Menschen nicht doch ein sehr fester Glaube an einen Gott, nämlich den der Sicherheit und Unverletzlichkeit unserer Weise zu leben? Ich kann sehen, wie stark dieser Glaube ist. Wenn sich Menschen in diesen Tagen in volle Flieger nach Mallorca setzen, dann leben sie diesen Glauben.
Das Leben, unser Leben, ist aber kein Strandspaziergang, bei dem man immer nur aufs Meer blicken kann. Das Leben und der Glaube haben eine andere Seite. Je länger ich unterwegs bin, desto öfter denke ich: Glaube ist sowieso Steilküste. Aber da sitzt ja Hiob. Er hat Gott verloren, den Gott der Spuren im Sand, den Gott, mit dem es funktioniert. Und er hat Gott gefunden, weil er ihn noch sucht. Schreib seine Worte in den Sand. Oder hau sie in den Felsen vor dir: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und als der letzte wird er über dem Staub sich erheben.“
Amen
Kathrin Oxen
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.
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