Wein und Regen
Predigt zu Johannes 3, 1-8 am Sonntag Trinitatis, 30. Mai 2021
Gibt es ein anderes Leben? Kommt es jetzt? So hoch und grün wie das Gras im Mai ist in den vergangenen Tagen die Hoffnung gewachsen. Sinkende Kurven, niedrige Zahlen, ein Pflaster auf dem Oberarm und die ersten spürbaren Lockerungen - es ist, als hätte es in den letzten Tagen nicht nur reichlich normalen Regen gegeben, sondern auch noch einen anderen Regen. Einen von oben, einen, der unsere Sehnsucht nach dem Leben, das wir vor der Pandemie hatten, hoch ins Kraut schießen lässt. Ja, es gibt warnende Stimmen. Es kann nicht so schnell gehen, wie wir es möchten, mit dem Impfen nicht und sonst auch nicht. Wenn wir alle gleichzeitig loslockern, birgt das auch wieder Risiken.
Aber schon das wieder erwachte Leben auf den Straßen der Stadt zu sehen, lässt in mir die Hoffnung wuchern wie grünes Gras. Und das trotz des Wetters, das mit kühlen Temperaturen und Sturzregen so gar nicht außengastronomietauglich ist. Wir erklären einfach die Saison für eröffnet. Und ob die Abende lau sind, das entscheiden jetzt gefälligst wir und nicht das Thermometer. Endlich wieder zusammen sein, zusammensitzen, trinken und reden. Rausgehen, Leute treffen, Gespräche nach Feierabend, in dieser kostbaren Lücke zwischen Arbeiten gehen und Schlafen gehen.
Denn in dieser Lücke wohnt doch das, was eigentlich das Leben ausmacht, neben Aufstehen, Arbeiten, Essen und Schlafen. Dass es diese Lücken, Zeiten, Zwischenräume so lange überhaupt nicht gab, die Feierabende, Veranstaltungen, Feste, den Urlaub, das hat das Leben alt und grau und unattraktiv gemacht und uns irgendwie gleich mit. Aber nun schießt die Hoffnung wie das Gras im Mai aus allen Ritzen im Pflaster. Nun wird alles jung und grün und wir gleich mit. Es gibt ein anderes Leben und es kommt jetzt.
Gibt es ein anderes Leben? Kommt es überhaupt? Es ist spät am Abend oder schon Nacht und einer kommt zu Jesus. Und irgendwie stellt man sich ihn alt und grau vor, diesen Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, obwohl das nirgendwo gesagt wird. Nur weil er einmal das Wort „alt“ erwähnt, muss er selbst es eigentlich nicht sein. Nikodemus kommt spät am Abend oder schon in der Nacht. Weil er weiß, dass man Gespräche, wie er eines führen möchte, nicht so gut am Tag führen kann. Am Tag ist Aufstehen, Arbeiten, Essen dran. Das Leben lässt am Tag keine Lücken, in denen die Fragen wachsen. Und manchmal gilt das nicht nur für die Tage, sondern gleich für die Jahre. Nikodemus kommt in der Tageszeit, die eine Lücke ist, die vor dem Schlafengehen. Er kommt vielleicht auch in einer Lebenszeit, in der er diese Lücke besonders spürt. Dass da etwas fehlt. Dass da doch mehr sein muss.
Und Jesus, der hat gerade dafür gesorgt, dass niemand diese Lücke spüren muss. Er hat auf einer Hochzeit in Kana gemacht, dass der Wein nicht ausgegangen ist und die Becher nicht leer geworden sind. Niemand musste am diesem Abend auf dem Boden des Bechers in sein Alltagsgesicht blicken. Sie haben gefeiert, bis die Sonne wieder aufgegangen ist und das Schlafengehen einfach mal übersprungen. Dieses Fest war einfach weitergegangen. Das Leben, wie es sein kann. Und nicht immer ist.
Ein Zeichen, ein Wunder. Der kann Wasser zu Wein machen, haben sie alle erzählt, so viel, dass niemand das jemals an einem Abend austrinken konnte. Der kann machen, dass das Fest nicht aufhört und dass es keine Lücken gibt. Mit Jesus kommt das gute Leben, das andere Leben. Und damit eine Antwort auf die ängstlichen Fragen, ob es das überhaupt gibt. Ob es wirklich kommt.
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wenn jemand nicht von neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
Nach dieser Antwort wünscht sich Nikodemus nur noch mehr, doch auf dieser legendären Hochzeit gewesen zu sein. Da hätte er sich nämlich wunderschön betrinken können und seine Frage einfach vergessen. Egal, wie alt er wirklich ist, nach dieser Antwort altert Nikodemus schlagartig. Denn das war ja genau seine Frage gewesen: Gibt es ein anderes Leben? Kommt es überhaupt? Es gibt doch kein Alles-auf-Anfang in einem Menschenleben. Alle Aufbrüchen und Anfänge in einem Menschenleben kann man zwar mit einer Geburt vergleichen, mit allen Wehen und Schmerzen und aller Euphorie, die dazu gehört.
Aber selbst, wenn dir so eine persönliche Neugeburt gelingt, wenn du sie irgendwann wagst, schleppst du eine Menge gelebtes Leben hinter dir her. Mindestens das, was dich als Kind geprägt hat. Ganz zu schweigen von all dem anderen, was noch dazukommt im Laufe des Lebens. Es gibt immer eine Zukunft für dich. Aber doch nie ohne deine Vergangenheit. Kann es überhaupt kommen, das andere Leben?
Ernsthaft, ehrlich und ein bisschen verzweifelt, so steht Nikodemus da. Er weicht der Lücke nicht aus, die es in jedem Leben gibt, der großen Frage. Ich würde mich gerne mit ihm an einem Tisch setzen und bei einen Glas Wein über das Leben reden. Es würde bei dem einen Glas bleiben und wir würden auch noch Wasser dazu trinken. Wir würden beide nüchtern bleiben. Und uns sehr gut verstehen.
Gibt es ein anderes Leben? Kommt es für mich? Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr Nikodemus, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein. (Rilke, Brief an einen jungen Dichter)
Wundere dich nicht über meine Antworten, Nikodemus, sagt Jesus. Du kannst dir nicht vorstellen, dass es ein neues Leben für dich geben soll. Deine Erfahrungen sind nicht danach. Aber dass du es dir nicht vorstellen kannst, ändert nichts an der Tatsache, dass es dieses neue Leben gibt. Es ist wie mit dem Wind. Niemand weiß, wie er weht. Aber dass er weht, ist nicht zu bestreiten. Und wenn bei dir solche Fragen aufkommen, dann ist das vielleicht der Wind. Und nach dem Wind kommt der Regen und fällt auf dein Gesicht und in dein Herz, wäscht alles weg, belebt, erfrischt und alles wird auf einmal jung und grün. Draußen. Und in dir.
Amen
Kathrin Oxen
Kathrin Oxen, Moderatorin des Reformierten Bundes, gibt Ihnen auf reformiert-info.de jeden Sonntag Materialien für den Gottesdienst für Zuhause, dazu eine aktuelle Predigt.
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