Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! AMEN.
Liebe Gemeinde!
Stell dir vor, es gibt eine Hölle - so, wie sie in der Bibel skizziert wird: Ein Ort äußerster Gottesferne, ein Ort der Qualen, dazu bestimmt, ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen gegenüber jenen, die sich bewusst dem Willen Gottes widersetzt haben.
Hölle hier, Himmel dort: Jener fromme Mann, der Jesus fragt, was er tun müsse, um “das ewige Leben zu erlangen”, will eben nicht in die Gottesferne verbannt werden, sondern, wie man später sich angewöhnte zu sagen, “in den Himmel kommen”.
Was antwortet Jesus?
Er fragt zunächst das Glaubensbekenntnis Israels ab: Adonaj ist einer, und du sollst ihn lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, zitiert der Gesetzeslehrer aus dem 5. Buch Mose - und fügt einen Halbsatz aus dem 3. Buch Mose hinzu: ...und deinen Nächsten wie dich selbst.
Das “Doppelgebot der Liebe” ist auf einmal in der Welt, und es kommt gar nicht von Jesus, sondern von seinem Gesprächspartner bzw. vom Evangelisten Lukas, demzufolge der fromme Eiferer sich im Hinblick auf Gott anscheinend nichts vorzuwerfen hat. Doch um sicher zu gehen, dass er auf dem richtigen Weg ist - sozusagen auf dem “Highway to heaven” - möchte er wissen, wer das denn überhaupt sei: der Nächste.
Hier folgt nun jene Geschichte vom “barmherzigen Samariter”, die wir schon so oft gehört haben - und nun ein weiteres Mal hören dürfen:
30 »Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab. Unterwegs wurde er von Wegelagerern überfallen. Sie plünderten ihn bis aufs Hemd aus, schlugen ihn zusammen und ließen ihn halbtot liegen; dann machten sie sich davon.
31 Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab. Er sah den Mann liegen, machte einen Bogen um ihn und ging weiter.
32 Genauso verhielt sich ein Levit, der dort vorbeikam und den Mann liegen sah; auch er machte einen Bogen um ihn und ging weiter.
33 Schließlich kam ein Reisender aus Samarien dort vorbei. Als er den Mann sah, hatte er Mitleid mit ihm.
34 Er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann setzte er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn in ein Gasthaus und versorgte ihn mit allem Nötigen.
35 Am nächsten Morgen nahm er zwei Denare aus seinem Beutel und gab sie dem Wirt. ›Sorge für ihn!‹, sagte er. ›Und sollte das Geld nicht ausreichen, werde ich dir den Rest bezahlen, wenn ich auf der Rückreise hier vorbeikomme.‹«
36 »Was meinst du?«, fragte Jesus den Gesetzeslehrer. »Wer von den dreien hat an dem, der den Wegelagerern in die Hände fiel, als Mitmensch gehandelt?«
37 Er antwortete: »Der, der Erbarmen mit ihm hatte und ihm geholfen hat.« Da sagte Jesus zu ihm: »Dann geh und mach es ebenso!«
Jesu Beispielgeschichte kehrt die Fragestellung um, und darin besteht der Clou: Dem Bedürftigen gegenüber hat sich jener als Nächster erwiesen, der ihm geholfen hat. Punkt. Ganz schlicht. Das versteht jeder.
Aber ist damit die Frage des frommen Juden - und auch von uns frommen Christenmenschen - beantwortet?
Wer ist denn jener Mensch, dem gegenüber ich mich, um dem Gebot Gottes Genüge zu tun, als Nächster zu erweisen habe?
Und ist es genug, seine Pflicht einmal abzuleisten, und dann ist es gut? Vielleicht mögen es auch sieben Male sein.
Oder - wir ahnen es schon - ist es hier wie bei der Frage des Petrus, wie oft ich dem verzeihen muss, der sich an mir vergangen hat; die Antwort lautete bekanntlich: sieben mal siebzigmal.
Also immer wieder, Tag für Tag.
Wer öfter mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, vor allem mit der S-Bahn, unterwegs ist, kann ein Lied davon singen, wie oft der “Haste mal ‘nen Euro?”-Spruch in unzähligen Variationen vorgetragen wird.
Da kann einem das Streben nach einem Fensterplatz im Himmel ganz schön sauer werden...
Wir müssen gleich noch die Frage stellen, ob tatsächlich jeder Fremde in Not ein Mensch ist, dem zum Nächsten zu werden meine Pflicht ist, deren Einlösung Nächstenliebe genannt zu werden pflegt.
Zunächst einmal stelle ich fest, dass man als einer, der diese Nothilfe verweigert, ganz und gar nicht in die “Hölle” kommt - zumindest nicht an einen Ort, wo Heulen und Zähneklappern ist. Ganz im Gegenteil: Wer sein Geld nicht - und sei es in sehr kleinen Portionen - zum Fenster hinauswirft, sondern fleißig spart, kann sich womöglich eines schönen Tages ein eigenes Heim leisten und wohnt dann vielleicht mit seinesgleichen in einer “gated community”, wo man sicher lebt, weil Wachleute einen vor der Gewalt jener schützen, die sich in ihrer prekären Lage eines Tages möglicherweise nicht mehr anders zu helfen wissen, als sich mit Gewalt zu holen, was man ihnen vorenthält an Lebens-Mitteln.
Doch auch, wenn man schlicht sein Alltagsleben lebt in einem eher bescheidenen Häuschen in der Gartenstadt, kann man die Tür hinter sich schließen und alles Unangenehme aussperren.
Freilich: Die Bilder, die man Kopf hat, die Stimmen, die man hörte, und das Elend, das man den Bettlern ansieht, wird man so nicht wieder los.
Man kann sich satt essen und es sich bei Sekt und Lachshäppchen gut gehen lassen und trotzdem versuchen, ein guter Christ zu sein; man kann ja beispielsweise für die Armen spenden - also ein Almosen geben im Promillebereich dessen, was man hat, natürlich weit unterhalb einer Schmerzgrenze, wo gegebenenfalls liebe Gewohnheiten verändert werden müssten, weil man das Geld ja auch nicht selber druckt, sondern sauer verdienen muss, so wie andere auch...
Ist die “Hölle” am Ende ein Ort, der einem “Paradies auf Erden” zum Verwechseln ähnlich sieht?
Zumindest dringen derartige Stimmen an unser Ohr, und wer ein waches Gewissen hat, der muss gewaltigen Druck aushalten und auch die Frage, womit wir dieses und jene ihr Elend verdient haben.
Unser Bekenntnis lautet, dass wir Leute sind, deren Not (und damit meine ich jetzt nicht materielle Dürftigkeit) von Gott aus Barmherzigkeit überwunden wurde.
Eben dies wollte Jesus wohl auch den frommen Glaubensgenossen wissen lassen. Der schien ja kein Problem damit zu haben, Gott zu lieben, wie es geschrieben steht. Aber wusste er überhaupt, dass Gott der ist, der barmherzig ist?
Wissen wir es?
Wenn wir es wissen - wie reagieren wir dann darauf?
“Der Nächste”, das ist natürlich nicht einfach die Person, die zufällig neben mir steht. Schon gar nicht ist es irgend jemand, mit dem mich gar nichts verbindet. Der “ferne Nächste”, solange er abstrakt bleibt, ist eine zwar fromme Konstruktion, aber eben doch etwas Künstliches, Dogmatisches.
Doch was ist mit denen, die ganz konkret unter größten Gefahren über das Mittelmeer zu uns kommen, und zwar nicht, weil unsere Menschenfreundlichkeit in aller Welt berühmt ist, sondern weil man ihnen erzählt hat, dass Europa das Paradies sei, wo sie der Hölle Afrikas, in der man hungert und darbt, entgehen könnten?
Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten, heißt es im sogenannten “Heiligkeitsgesetzt” des Ersten Testaments.
Da haben wir es wieder, jenes: “wie dich selbst”, das eigentlich ein “wie du” ist. Der “Nächste” - das ist der Mensch, der dir in seiner Bedürftigkeit gleicht.
Nun ist es richtig, dass auch ein wirtschaftstarkes Land wie Deutschland nicht in der Lage ist, die Not der ganzen Welt aufzufangen.
Wahr ist aber auch, dass die Armut Afrikas und anderer Weltgegenden eine Spätfolge des Kolonialismus ist, die wir mit zu verantworten haben.
Falsch ist es daher zu fordern, die “Hungerleider” auszusperren, um den eigenen Wohlstand zu schützen.
Um im Bild der Beispielgeschichte Jesu zu bleiben: Wer mir vor die Füße fällt, dem bin ich es schuldig, Barmherzigkeit zu erweisen.
Das “wie du” hat aber auch noch eine andere Komponente, die in unserem säkularen Staat mit seinem mühevollen Streben nach gesellschaftlichem Frieden zwischen den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen beinahe nur noch hinter vorgehaltener Hand gesagt wird.
Die Bibel gebraucht nämlich selten die Vokabel “Freund”, und auch der “Nächste” ist keine geläufige Bezeichnung. Statt dessen ist dort häufig von den “Genossen”, den “Chaverim”, die Rede - also von den Männern und Frauen, die gemeinsam auf dem Weg sind unter Gottes Wort und also eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Wenn unter ihnen eines leidet, dann leiden alle anderen mit, sagt Paulus (1 Kor 1226) und fordert im Galaterbrief (610): Solange wir noch Gelegenheit dazu haben, wollen wir allen Menschen Gutes tun, ganz besonders denen, die wie wir durch den Glauben zur Familie Gottes gehören.
Und der Apostel Jakobus mahnt (Jak 417): Wenn jemand weiß, was gut und richtig ist, und es doch nicht tut, macht er sich schuldig.
Das, liebe Gemeinde, sei ferne!
Amen.