„Schaut, diesen Menschen in meinem Dienst:
An dieser Person halte ich fest, sie habe ich erwählt,
an ihr habe ich Gefallen gefunden.
Ich habe meine Geistkraft auf sie gegeben,
Recht soll sie zu den Völkern hinausbringen.
Sie schreit nicht, sie ruft nicht laut,
sie lässt ihre Stimme draußen nicht hören.
Das geknickte Rohr zerbricht sie nicht,
und den glimmenden Docht löscht sie nicht aus,
zuverlässig bringt sie das Recht hinaus.
Sie wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen,
bis Recht auf der Erde gesprochen wird.
Auf ihre Weisung warten die Inseln.“
Jesaja 42,1-4 (Bibel in gerechter Sprache)
Liebe Gemeinde:
„Als einmal eine alte Frau vom König forderte, ihr Recht zu schaffen und ihn oft bedrängte, behauptete er, keine Zeit zu haben. Da rief die alte Frau: „Dann sei auch kein König.“ Verblüfft von diesem Wort, hörte er sofort nicht nur ihren, sondern auch die Fälle der anderen ausführlich an.“[1]
Die kleine Szene, die gleich über mehrere berühmte Herrscher erzählt wird, stellt den antiken Maßstab für gutes Regierungshandeln vor: Der König ist der oberste Richter seines Volkes. Als solcher hat er sich um Rechtsfragen zu kümmern und für Gerechtigkeit bei seinen Untertanen zu sorgen.
Die Erzählung ist ein Beleg dafür, dass die Frage nach Recht und Gerechtigkeit die Menschen von jeher umtreibt. Es zieht sich durch von der Antike bis zu uns heute. GERECHTIGKEIT ist ein großes Wort. Was es konkret bedeutet, ist umstritten. Was dem einen gerecht erscheint, ist es für die andere noch lange nicht. Bei der Bewertung, was wann gerecht ist, gibt es einen großen Ermessensspielraum. Gleichzeitig haben schon kleine Kinder ein natürliches Empfinden für das, was gerecht und was ungerecht ist. Die Suche nach Gerechtigkeit ist eine Triebfeder menschlichen Mitgefühls. Gerechtigkeit legt die Grundlage des modernen menschlichen Zusammenlebens und kann eine Gesellschaft verändern.
Ein Mosaiksteinchen oder einen Gedankenbeitrag in der Diskussion um das, was Recht und Gerechtigkeit ist, bieten die Worte aus dem Jesajabuch. Schaut, diesen Menschen in meinem Dienst. lässt der Prophet hier Gott durch seinen Mund sprechen.
Er entwirft das Bild einer Gestalt, die das Recht zu den Völkern bringt und es auf der ganzen Erde durchsetzt. Luther nennt in seiner Übersetzung diese Person den „Gottesknecht“, den „Auserwählten“. Es gibt viel theologische Diskussionen darüber, wer mit diesem Gottesknecht gemeint sein könnte.
Wie bei der anfangs erzählten antiken Legende, könnte der Gottesknecht der König sein. Denn die Bibel teilt das Ideal des gerechten Herrschers. Das biblische Zeugnis unterstreicht dabei, dass sich Gerechtigkeit nicht von selbst herstellt, sondern die Unterstützung Gottes benötigt. So heißt es im Psalm 72: „Gott, gib dein Recht dem König und deine Gerechtigkeit dem Königssohn, dass er dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht.“ (Ps 72,1) Das Recht und die Gerechtigkeit, die Gottes sind, sollen auf den König übergehen. Der König ist somit der Vermittler der göttlichen Gerechtigkeit.
Die biblischen Propheten demonstrieren allerdings auch, dass viele Königinnen und Könige an diesem Ideal scheitern. Und nicht nur die Propheten. Schon die ersten berühmten Könige Israels, Saul und David, haben schwarze Flecken auf der weißen Weste eines gerechten Königs. Statt für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich zu sorgen, schließen die Könige Israels lieber Bündnisse mit den Mächtigen.
Die Unterdrückung Wehrloser verhindern sie nicht. Die gesellschaftlichen Eliten häufen Reichtum an, dadurch dass sie andere Menschen ausbeuten (z.B. Jes 5,8-24). Für die damaligen Theologen und Geschichtsschreiber ist dieses Versagen der Könige und der Mächtigen im Land die Ursache für das babylonische Exil, die Verbannung Israels aus seiner Heimat. Von den biblischen Propheten wird das Exil als Strafe Gottes empfunden und gedeutet.
Genau in dieser Zeit werden die Worte Jesajas überliefert: Schaut, diesen Menschen in meinem Dienst. Es ist also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kein König gemeint. Israels Gemütsverfassung gleicht jetzt eher dem geknickten Schilfrohr, von dem die Rede ist, dem nur noch glimmenden Lampendocht, fast zerbrochen und beinahe erloschen. Ist der „Gottesknecht“ in dieser Situation vielleicht also eher ein Gegen-König, ein Messias, ein anderer Prophet, der die Rettung bringt? Oder ist damit das Volk Israel selbst gemeint, das eines Tages wieder zu seinem Recht kommen wird und sich selbst wieder aufrichtet?
Die Erfahrung des Scheiterns des bisherigen Regierungssystems und die Erfahrung des Aus-der-Heimat-Gewiesenseins lässt nach der Möglichkeit einer gerechten Gesellschaftsordnung fragen. Und diese wird hier mit dem Erscheinen des / eines „Gottesknechtes“ verknüpft.
Im Alten Testament erfolgt keine Festlegung, wer genau mit dieser Gestalt gemeint ist. Durch das Offenhalten der Deutung können später die Christinnen und Christen der ersten Zeit die Erwartungen auf Jesus übertragen. (vgl. Mt 12,15-21)
Was befähigt nach Jesaja den „Gottesknecht“ zu seiner Aufgabe? Zum „Gottesknecht“ wird man durch die Geistkraft, sagt Jesaja. Das aufnehmend, lässt sich der Kreis der Gemeinten sogar noch weiter aufmachen: Denn als Christen leben wir aus dem Geist Gottes. Deswegen können wir die Zusage Jesajas auch als an uns gerichtet hören: An dieser Person halte ich fest, sie habe ich erwählt, an ihr habe ich Gefallen gefunden. Und dann geht auch der Anspruch an unsere Adresse, der Auftrag an den Gottesknecht, das Recht hinauszubringen und zu verbreiten, ist dann ein Auftrag an uns.
„das Recht verbreiten“: Das ist sehr allgemein gesprochen. Im Grunde fällt erst einmal fast jede Meinung und Einstellung darunter. Man muss wohl noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Wodurch zeichnen sich das Recht und die Gerechtigkeit, die Gottes sind, aus? Was ist darunter zu verstehen?
Gerechtigkeit und Recht, schnell in einem Atemzug gesagt, sind nämlich verschiedene Dinge. In vielen Diskussionen, nicht nur im fernen Hongkong, auch in der Europäischen Union und mit den Nachbarstaaten, um Menschenrechte, Freiheit der Meinungsäußerung, Veränderungen an der Verfassung, kann man sich vor Augen führen: Geltendes Recht kann ungerecht sein, wenn es ungerechten Gesetzen folgt. Oder man schaut als abschreckendes Beispiel in die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands.
Gerechtigkeit ist ein Wert, die Grundlage eines gerechten Rechtssystems. Gerechtigkeit ist deshalb eine moralische Instanz, die das Recht kontrolliert. Und wie jede moderne moralische Instanz unterliegt die Gerechtigkeit damit einem moralischen Aushandeln, was genau darunter zu verstehen ist. Die biblischen Überlieferungen zeigen uns Christinnen und Christen eine Richtung an, in der dieses moralische Aushandeln geschehen sollte.
Schaut, diesen Menschen in meinem Dienst. Der Mensch in Gottes Dienst verbreitet das Recht, unter allen Völkern und auf der ganzen Erde. Jetzt ist es noch nicht soweit, dass sich überall das Recht durchsetzt, aber es wird einmal sein.
Und das ohne Gewalt, ohne Geschrei, mit Rücksicht auf das Schwache und die Zerknickten, das Bruchstückhafte und Armselige, das am Boden Liegende, das nur noch einen winzigen Lebensfunken in sich trägt.
Das Recht und die Bewahrung/ der Schutz der an den Rand Gedrängten sind hier ganz eng miteinander verknüpft. Es kann nach biblischer Vorstellung also keine Gerechtigkeit geben ohne einen systematischen Schutz der Schwachen. Das geknickte Rohr zerbricht sie nicht, und den glimmenden Docht löscht sie nicht aus. Es ist ungerecht, wenn immer mehr Menschen die Lasten tragen müssen, damit es immer weniger Menschen richtig gut geht. Es ist ungerecht, wenn Menschen aus dem sozialen Netz herausfallen. Und da geht es eben nicht um Mitleid oder frommes Guttun, sondern das ist ein fundamentaler Bestandteil des Rechts.
Wir haben in unserem Land eine Schlagseite in der Gerechtigkeit, vielleicht gerade weil es vielen Bundesbürgern relativ gut geht. Die Folgen dieser Entwicklung sind längst spürbar. Die Corona-Krise hat hier wie ein unguter Katalysator gewirkt. Die Zukunftsangst wächst hinein bis in die Mitte der Gesellschaft.
Sie wird umso größer, je mehr Umbrüche und Veränderungen sich ankündigen. Sei es durch den Klimawandel und damit einhergehende Katastrophen von Flut, Dürre, Feuer, sei es durch die großen Flüchtlingsbewegungen, sei es durch die um sich greifende Digitalisierung vieler Lebensbereiche.
Solche Veränderungen können auch ein Anstoß sein, Perspektiven für eine menschliche und nachhaltige Entwicklung zu finden – doch nur, wenn sie gerecht ablaufen. Wenn die Veränderungen jedoch auf eine Gesellschaft treffen, in der jeder gegen jeden kämpft, nimmt die Verrohung weiter zu. Sie weitet sich aus zu Intoleranz und Aggressionen. „Wo die Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen systematisch und dauerhaft verletzt wird, da wird dieses Gemeinwesen krank, da gedeihen Unduldsamkeit, Hass und Gewalt“, so der frühere EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm.
Jesaja erinnert daran: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert.“ (nach Micha 6,8) Biblische Gerechtigkeit ist eine Frage des Glaubens. Sie fordert aber auch dazu auf, Gerechtigkeit weiterzudenken und konkret zu fördern, bis Recht überall auf der Erde gesprochen wird.
Amen.
Stefania Scherffig, Pfarrerin der Ev.-ref. Gemeinde St. Martha in Nürnberg, gehalten am 9. Januar 2022
[1] z.B. Plutarch, Moralia; Cassius Dio.