Liebe Gemeinde, wir kennen es aus dem Fernsehen, wie eine Entführung funktioniert: Verbrecher kidnappen jemand – oft die Kinder von Reichen oder Prominenten, fordern eine hohe Summe und lassen die Geisel dann wieder frei, wenn sie das Geld bekommen haben.
In den Krimis kommt natürlich meistens etwas dazwischen, so dass es nochmal richtig spannend wird. In echt geht es ganz oft gut – also für die Entführten. Den Verbrechern geht es ja um das Geld – das Lösegeld. Dieses Geld hergeben zu müssen, tut den Geschädigten oft nicht einmal so richtig weh. Der größere Schaden ist eigentlich der psychische. Viele Opfer von Entführungen brauchen lange, um das Trauma zu überwinden, manche schaffen es nie.
Warum erzähle ich Ihnen sowas, das doch eher heute Abend ab 20.15 Uhr dran ist? Weil in unserem Predigttext dieses Wort vorkommt: "Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele."
Das hört sich ja schon so an, als wenn es hier auch gut gegangen wäre. Das Lösegeld hat seinen Zweck erfüllt und Vielen geht es gut damit. Wenn wir durch komplizierte Tatort-Drehbücher geschult nochmal genauer hinschauen, stellen sich allerdings Fragen: Wer sind denn die Vielen? Wer hält sie gefangen? Und für was ist das Lösegeld?
Aber wir brauchen uns nicht künstlich dumm stellen. Längst ist ja klar: Es geht hier um etwas ganz anderes. Das Lösegeld ist kein Geld, sondern ein Mensch. Und der das Lösegeld bekommt ist kein Verbrecher, sondern Gott. Wir haben heute schon davon gesungen und die Lesung hat uns vor Augen geführt, um was es eigentlich geht: um ein Opfer, das stellvertretend für uns gebracht wird.
Und gebracht wird dieses Opfer für unsere Schuld und Sünde. Aber es ist eben kein Opfer wie zur Zeit des Moses oder auch später, als Tiere blutig geopfert wurden. Das Opferlamm ist in diesem Fall Jesus, der Sohn Gottes. In vielen Liedern werden wir mit hineingenommen in eine Freude darüber, dass Jesus für uns gestorben ist.
„Wir danken dir, Herr Jesus Christ,
dass du für uns gestorben bist,
und hast uns durch dein teures Blut
gemacht vor Gott gerecht und gut“,
heißt es in dem bekanntesten Passionslied. Und in einem anderen:
„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld
der Welt und ihrer Kinder;
es geht und büßet in Geduld
die Sünden aller Sünder;
es geht dahin, wird matt und krank,
ergibt sich auf der Würgebank
entsaget allen Freuden,
es nimmt an Schmach, Hohn und Spott
Angst, Wunden, Striemen, Kreuz und Tod
und spricht: ‚Ich will’s gern leiden.‘“
Das ist schon unglaublich, wie Paul Gerhardt es schafft, mit poetischen Worten die grausame Kreuzigung in eine für uns nicht nur erträgliche, sondern geradezu wohltuende Aktion zu verwandeln.
Ganz ähnlich habe ich das immer wieder im Gespräch mit Leuten empfunden, die so ganz fest im Glauben stehen, so unerschütterlich. Und die auch ganz feste Vorstellungen davon haben, wie ein gottgefälliges Leben aussieht und noch besser wie nicht. Da wird dann auch mit solcher Freude über den Tod Jesu gesprochen und wie toll das doch für uns ist, dass er uns unsere Sünden abgenommen hat.
Wenn ein Mensch geopfert wird, liebe Gemeinde, dann darf uns das nicht freuen. Auch nicht, wenn das 2000 Jahre her ist und auch nicht wenn es Gottes Sohn ist. Und selbst wenn das Bild von Jesus als dem Opferlamm ein paar Mal in der Bibel vorkommt und hier das Bild vom Lösegeld in eine ähnliche Richtung geht, frage ich, ob das wirklich so richtig ist.
Erwartet Gott wirklich ein Opfer, damit er Gnade mit uns walten lässt? Diese ausgleichende Gerechtigkeit feiern wir am Sonntag Judika. Aber das macht – mich jedenfalls – nicht froh, sondern eher nachdenklich. Denn was ist mit dieser Logik gewonnen, dass wo eine Schuld ist, ein Opfer hermuss?
Es gibt zwar ein Ersatz-Opfer, aber es bleibt die Logik stehen, dass unsere Sünde durch Opfer aufgewogen werden muss. Und Gott bleibt ein Gott, der Opfer verlangt. Es wird zwar von ihm selbst übernommen, eines zu bringen und er ist ja sogar das Opfer selbst, aber es bliebe eben dabei, dass opfern sein muss.
Nun kommen dieses Bild, diese Formulierung und die Logik des Opferns aber an vielen Stellen der Bibel eben auch nicht vor. Und das hat einen triftigen Grund. Denn Jesus hat in seinem ganzen Leben gegen solche Zusammenhänge angeredet und vorgemacht, wie es anders geht. Er hat Menschen ihre Schuldgefühle abgenommen, von denen die selbst glaubten, dass sie diese verdient hätten. In seinen Gleichnissen geht es immer wieder darum, dass Gott uns Menschen unabhängig von dem, was wir leisten, liebt und auch Schuld vergibt ohne, dass dafür eine Gegenleistung erbracht werden muss.
Man kann also Jesus als das letzte Opferlamm ansehen, das sterben musste, um Gerechtigkeit herzustellen. Man kann es aber auch lassen. Weil sein Tod anders nämlich noch viel bedeutsamer wird. Dass wir Menschen einen wie Jesus umbringen – und ich bin mir sicher, das würden wir heute auf andere Weise wieder so tun – das zeigt uns, wie gnadenlos unsere Logik ist: Wenn jemand kommt und unsere Art zu urteilen und Menschen zu behandeln in Frage stellt, endet das nicht gut für ihn.
Wenn wir glauben, dass Jesus für uns gestorben ist, dann sollten wir das tun, weil er uns die Augen geöffnet hat für eine andere Einstellung zur Welt, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst. Nicht Opfern ist angesagt, sondern Lieben und Verzeihen. Wie schwierig der Begriff des Opfers ist, erleben wir gerade sehr deutlich und sehr unterschiedlich:
Putin opfert tausende Soldaten in einem sinnlosen Krieg. Und er inszeniert diese Opfer in einer Rede vor gefüllten Rängen in einem Stadion als Gott gefällig. Und die Leute jubeln ihm zu, weil gefällige Opfer nicht so weh tun. Als wären sie keine Menschen, die gestorben sind, sondern Figuren in einem Spiel.
Auf der anderen Seite opfern sich Menschen in der Ukraine, um ihr Land zu verteidigen. Sie lernen den Umgang mit Waffen, die sie vorher nicht angefasst haben und sind bereit, auf Angreifer zu schießen. Sie sehen auch der Möglichkeit ins Auge selbst ums Leben zu kommen. Für uns, die wir hier sind und unsere Zimmer heizen wollen, ist es bequem, diese Menschen als Opfer zu bezeichnen. Es scheint uns dadurch ein bisschen leichter, mit dem verzweifelten Kampf dort umzugehen. Doch eigentlich sind es alles einzeln zu betrauernde Menschen. Und das sollte genug sein, weil es das bedeutendste ist, was es gibt, jedes Leben zu sehen und zu achten.
Wie unterschiedlich wertvoll Opfer dagegen sind, merken wir daran, wie vergleichsweise gleichgültig wir anderen Kriegen, anderen Konflikten in der Welt gegenüberstehen. Wie wir die Menschen, die uns fremder sind, weil sie nicht aus Europa kommen, gar nicht gastfreundlich behandeln – also wir hier in der Gemeinde vielleicht schon, aber als Gesellschaft. Jeder Mensch, der ein Opfer wird, ist einer zu viel. Es gibt kein Leid und keinen Tod, die Gott gefallen. Alle Opfer gibt es nur, weil wir Menschen es nicht schaffen, friedlich und vernünftig miteinander zu leben.
Liebe Gemeinde, dieser Unterschied, ob Gott sich in Jesus selbst geopfert hat oder am Kreuz gestorben ist, um uns die Augen zu öffnen, ist ein kleiner. Man könnte sagen, es geht nur um eine Formulierung. Und doch glaube ich, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, weil Gott uns diesen Rückfall in doch wieder ein Aufrechnen und doch wieder ein Verherrlichen der Opfer verbauen will. Wir sollen ein für allemal verstehen, dass Gott gnädig ist ohne dass ihm auch nur irgendetwas geopfert wird und dass wir entsprechend aufhören sollen, Opfer zu bringen
Das verändert unser Leben grundsätzlich und nachhaltig. Wir müssen uns selbst nicht aufopfern, wir müssen von anderen keine Opfer verlangen und schon gar nicht Andere zu Opfern machen. Es reicht, dass wir Menschen sind und dass wir einen Gott haben, der an unserer Seite ist. Auch über uns und unter uns und was irische Gebete noch so schön formulieren können. Oder wie es unser Predigttext formuliert: "Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele“
Wenn wir dieses Wort Jesu als Wort Gottes verstehen, dann spricht Gott hier davon, dass er sich von uns nichts andienen lassen will, sondern das Dienen einzig und alleine in die eine Richtung geht: Von Gott zu uns. Dass er sein Leben, also das Leben Jesu gegeben hat, muss man auch in diesem Satz nicht so verstehen, dass er ihn geopfert hat, sondern, dass er sich hergegeben hat, um etwas zu lösen – in uns etwas auszulösen, seine Liebe begreifbar zu machen.
Gottes Gnade lässt sich in kein Schema pressen. Sie lässt sich nicht instrumentalisieren. Und sie befreit uns von jeglichem Druck. Unser Denken und Handeln können alleine aus Dankbarkeit kommen – aus Dankbarkeit für diese opferbefreite Gnade und Güte. Amen.
Georg Rieger, Pfarrer in der Ev.-ref. Gemeinde St. Martha Nürnberg