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Der Schlange ins Gesicht sehen
4. Mose 21, 1-9
Liebe Gemeinde, wer von Ihnen schon einmal versucht hat, die Bibel von vorne bis hinten durchzulesen, hat höchst Unterschiedliches erlebt. Es gibt spannende Geschichten. Wir lernen viel über uns Menschen, wie wir sind. Manches ist ernüchternd, vieles schön. Oder doch eher umgekehrt: Manches ist schön, vieles ist ernüchternd. Denn die Bibel öffnet uns von Seite 2 an die Augen dafür, wie wir Menschen sind: bereit, viel Böses zu tun, und nur schwer zum Guten zu bewegen.
Und dann gibt es ganze Bücher in der Bibel, die uns an den Rand der Verzweiflung bringen. Die endlosen Verbote und Reinheitsvorschriften, die Moses nach den 10 Geboten verkündet; die Kriege der Israeliten gegen andere Stämme, die Siege und Niederlagen auf dem Weg ins gelobte Land. Und dann das ewige Hin und Her der Israeliten in der Wüste. Immer wieder das Aufbegehren gegen Gott und dann wieder irgendeine Strafe, die kurzzeitig zu Versöhnung führt. Aber schon kurz danach geht es wieder los: Gejammer, Protest, irgendeine sinnlose Aktion. Wie können die damals nur so gedankenlos, wankelmütig und inkonsequent gewesen sein! Noch dazu undankbar und immer gleich mutlos.
Das liegt natürlich daran, dass wir die Umstände nicht kennen und nicht nachvollziehen können. Wie ist es denn so in der Wüste? Was ging da ab zwischen den Menschen, die jahrzehntelang wanderten? Das herauszufinden, vor diese Aufgabe stellt uns der heutige Predigttext aus dem 4. Buch Mose, Kapitel 21:
Da hörte der Kanaaniter, der König von Arad, der im Südland wohnte, dass Israel auf dem Weg von Atarim heranzog. Und er kämpfte gegen Israel und führte einige von ihnen in Gefangenschaft. Da legte Israel dem HERRN ein Gelübde ab und sprach: Wenn du dieses Volk in meine Hand gibst, werde ich ihre Städte der Vernichtung weihen. Und der HERR hörte auf die Stimme Israels und gab die Kanaaniter preis, und Israel vernichtete sie und ihre Städte und nannte den Ort Chorma.
Dann zogen sie weiter vom Berg Hor auf dem Weg zum Schilfmeer, um das Land Edom zu umgehen. Auf dem Weg aber wurde das Volk ungeduldig. Und das Volk redete gegen Gott und Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Damit wir in der Wüste sterben? Denn es gibt kein Brot und kein Wasser, und es ekelt uns vor der elenden Speise.
Da sandte der HERR die Sarafschlangen gegen das Volk, und sie bissen das Volk, und viel Volk aus Israel starb. Da kam das Volk zu Mose, und sie sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir gegen den HERRN und gegen dich geredet haben. Bete zum HERRN, damit er uns von den Schlangen befreit. Und Mose betete für das Volk.Und der HERR sprach zu Mose: Mache dir einen Saraf und befestige ihn an einer Stange. Und jeder, der gebissen wurde und ihn ansieht, wird am Leben bleiben.
Da machte Mose eine bronzene Schlange und befestigte sie an einer Stange. Wenn nun die Schlangen jemanden gebissen hatten, so blickte er auf zu der Bronzeschlange und blieb am Leben. (aus: Zürcher Bibel)
Liebe Gemeinde, die Geschichte des Volkes Israel in der Wüste ist eine lange Passionsgeschichte. Sie endet zwar nicht mit dem Tod, aber in ihrem Verlauf leiden und sterben viele Israeliten.
Und gleichzeitig ist es ein Weg in die Freiheit – der Weg in die Freiheit. Ein Reinigungs- und Lernprozess für ein ganzes Volk. Das war kein Weg, auf dem es galt, möglichst zügig von A nach B zu kommen. Die 240 Kilometer wären auch unter damaligen Umständen in zwei Wochen zu schaffen gewesen. Das Volk war auf Umwegen unterwegs – sowohl was die Wegführung anging, als auch, was seine Einstellung zu dem Vorhaben anging. Und: Sie haben ihren Gott ganz neu kennengelernt.
Und das, liebe Gemeinde, ist schließlich auch unser Gott. So wie wir sagen, dass Jesus für uns gestorben ist, sind auch die Israeliten für uns durch die Wüste gewandert. Die Erfahrungen, die sie dabei gemacht haben, sollten wir uns also genauer anschauen und das nicht vorschnell belächeln, was vordergründig passiert ist.
Extra habe ich zu dem vorgeschlagenen Predigttext noch die Verse davor mit vorgelesen, in denen es um eine der vielen Auseinandersetzungen mit anderen Stämmen ging – in diesem Fall einem, der zu den Kanaanitern zählte. Die Israeliten zerstörten noch öfter deren Städte, in die sie dann später aber mit einzogen und mit den Kanaanitern zusammen bewohnten. Aber das nur am Rande.
Ein weiterer Schlagabtausch, eine weitere Anstrengung auf dem mühsamen Weg. Und dann wieder nichts zu Essen außer diesem Manna. Diese Wunderspeise, die die Israeliten schon einmal rettete, wurde zur täglichen Speise. Und wissen Sie, was man vermutet, dass das Manna war? – Das Sekret von Schildläusen, das diese nachts, wenn es auch in der Wüste kalt ist, ausscheiden und das morgens wie Reif auf dem Wüstensand liegt. Es muss schnell verzehrt werden, ehe es in der Tageshitze verdirbt. Und ehrlich: Ich möchte nicht wissen, wie es geschmeckt hat.
Das entscheidend Dramatische an der Situation der Israeliten ist aber, dass sie auch nach bald 40 Jahren nicht wissen, ob sie jemals da ankommen, wo sie hinwollen. Und ob das gelingt, was ihnen zwar verheißen ist, was sie sich aber beim besten Willen nicht vorstellen können. Worüber wir so locker hinweglesen, ist eine Tortur, eine gemeinschaftliche, kollektive Krise, die 40 Jahre andauert. Natürlich wird es dazwischen mal Pausen gegeben haben, Aufenthalte von bis zu zehn Jahren werden berichtet. Doch es bleibt selbst dann im Bewusstsein: Wir sind nicht da, wo wir hingehören. Und wir kennen das nicht, wo wir hinsollen. Und wir haben Angst davor, was uns erwartet – vielleicht noch mehr Angst als vor dem Weg dahin.
Ich stelle mir bei biblischen Texten ja immer die Frage: Warum ist diese Geschichte so weitererzählt worden? Über Jahrhunderte. Schon bevor sie aufgeschrieben wurde. Was hat die Menschen daran interessiert oder sogar fasziniert, beim Erzählen, Hören Schreiben und Lesen?
Bei den Geschichten des Volkes Israel geht es immer um die gemeinschaftliche Identität. Darum, dass diese Vertreibungs- und Wanderungs- und Findungsgeschichte ja für die Juden immer weitergeht. Bis in die heutige Zeit lassen sich da Parallelen ziehen. Und auch wenn wir keine Israeliten sind, liebe Gemeinde, geht uns auch das etwas an, weil es auch unsere Geschichte ist. Die christliche Religion ist ohne diese Gotteserfahrungen in der Wüste nicht zu denken. Es gäbe sie schlichtweg nicht. Das muss uns einfach klar sein. Aber es ist auch nicht nur dieser Bezug, den wir herstellen können. Die Geschichten erzählen auch etwas über das Leben an sich. Und sie haben seit jeher auch deshalb einen tiefen Sinn und ein großes Potential, wenn wir sie für uns entdecken.
Heute ist der Sonntag Judika und der Abschnitt aus dem vierten Buch Mose ist ausgesucht zum Thema Recht und Gerechtigkeit. Scheint es ja zu passen, die Geschichte so zu verstehen: Die Israeliten beschweren sich, pfeifen auf ihre Loyalität. Gott verhängt im Gegenzug eine Strafe, die ihren Zweck auch erfüllt: Die Israeliten bereuen ihren Fehler und ihr Anführer darf die Strafe wieder aufheben.
Ja, das ist irgendwie logisch. Doch es bleibt eine Geschichte von damals und wir erkennen allemal den erhobenen Zeigerfinger und hören die Drohung wie: „Wage es nie, dein Gottvertrauen aufzugeben!“ Mehr bleibt so von der Geschichte nicht hängen. Wenn wir ihr mehr zutrauen, dann aber doch. Denn es gibt ein paar Gründe, nochmal genauer hinzuschauen:
Nicht so recht plausibel ist, dass Menschen, die fast 40 Jahre in der Wüste verbracht haben, mit Schlangen nicht klarkommen. Anderseits sind Schlangen Symbol für so ziemlich alles, was es gibt: Sinnbild des Teufels, der Verführung natürlich, aber auch der Kraft, der Heilung und sogar der Auferstehung. Ich habe irgendwann aufgehört zu lesen, für was noch alles. Und drittens ist die Auflösung der Geschichte der deutlichste Hinweis. Dass Moses mit einer Schlange die Wirkung der Schlangen eliminieren kann, ist definitiv kein Zufall, sondern der eigentliche Clou der Geschichte.
Aber von vorne: Nach dem Frustrationsausbruch der Israeliten heißt es, dass Gott die Sarafschlangen sandte. Und wir können das zunächst kaum anders verstehen als eine Bestrafungsaktion. Aber ausgerechnet Schlangen! Viel mehr Sinn macht die Geschichte, wenn diese symbolträchtigen Tiere dem einen Namen geben, was die Israeliten quält.
Wir müssen uns dafür freilich von dem Gedanken losmachen, dass das tatsächlich so passiert ist, weil uns sonst das Mitleid mit den Gebissenen und zu Tode gekommenen, den Blick auf das Symbolische an der Geschichte verstellt. Die Not der Israeliten, die ist real. Die Schlangen aber sind eine Erzählung, die späteren Generationen und uns heute an der Not der Israeliten etwas klar machen soll.
Also: Gott schickt nämlich diese Tiere, damit die Israeliten ihren Ängsten und ihrem Frust eine Gestalt geben können. Gebissene waren sie längst schon und fühlten sich als Todgeweihte. Aber was war das eigentlich, was sie so herunterzog, was ihnen so Angst machte? War da nicht diese Verheißung, das Ziel, das gelobte Land?
Ich glaube, wir kennen dieses Gefühl alle. An bestimmten Stellen unseres Lebens kommen wir nicht weiter. Wir drehen uns im Kreis. Es ist manchmal wie eine Wanderung durch die Wüste. Oder wie ein Ritt durchs Feuer. Uns fehlen die Worte, wir können nicht darüber reden, weil wir uns ja gleichzeitig schämen.
Es kann bei großen Lebensthemen passieren wie auch aus einem eigentlich unbedeutend kleinen Problem heraus, dass uns die Worte, ja auch die Vorstellung davon flöten geht, was gerade mit uns passiert. Dann ist es schön, wenn jemand kommt und wir reden können und es vielleicht in dem Gespräch passiert, dass das Problem eine Gestalt gewinnt. Weil es uns jemand Anderes beschreibt oder wir im Erzählen plötzlich ein Bild vor Augen haben, das uns bisher gar nicht in den Sinn gekommen ist.
Einer Angst einen Namen zu geben, sie als eine Gestalt kennen zu lernen, das ist ein Hilfsmittel bei Therapien, es ist aber auch ein Mittel, das wir im Alltag bisweilen verwenden. Und es muss auch gar nicht immer so ausdrücklich und bildlich sein. Manchmal bekommt ein Problem durch das Reden darüber eine Form. Das heißt, es ist nicht mehr überall, nicht mehr raumgreifend, sondern bekommt Grenzen. Daneben hat wieder Anderes Platz. Das ist der Anfang davon, dass wir wieder heil werden können.
Nicht eine Strafe, sondern eine erste Hilfe ist das also, was Gott tut, indem er Schlangen sendet. Und das tut auch sogleich seine Wirkung, indem die Israeliten erkennen, was Sache ist. Wir tun uns hart mit dem Wort „Sünde“, was da fällt. Doch es bezeichnet den Schlamassel, in dem wir ja irgendwann auch nur noch an uns selbst denken, uns um uns selbst drehen und weder unsere Mitmenschen offen sind noch empfänglich für Gott.
Und nun reagiert dieser aber mit einem zweiten Schritt der Hilfe. Er bittet Mose, diese Gestalt der Angst, die Schlange also, aus Bronze nachzubilden und zur Rettung der Situation einzusetzen: Und jeder, der gebissen wurde und ihn ansieht, wird am Leben bleiben.
Vordergründig gibt Gott Moses einen Zauberstab an die Hand, mit denen er die Gebissenen heilen kann. Doch nicht eine Berührung oder ein Zauberspruch heilen die von der Angst gebissenen. Nein, dass sie die Schlange ansehen, also der Angst in die Augen sehen, das führt sie ins Leben zurück. Moses zaubert nicht, sondern hält uns unser Problem vor die Nase. Dem, was uns quält, sollen wir uns stellen. Die Heilung kommt aus eben diesem selbst. Nicht durch Ausweichen, Vermeiden, Verdrängen, sondern durch das Hinschauen, Verstehen und Beherzigen.
Weder die Israeliten noch wir können es anders schaffen, wenn wir Ängste haben oder in Not sind. Wir müssen ihnen ins Gesicht sehen. Im Falle der Schlange wird noch ein Weiteres deutlich. Während die beißenden Schlangen sich am Boden winden, ist die heilende Schlange auf dem Stab in Augenhöhe. Wer ihr ins Gesicht sieht, hat also den Blick gehoben, hat die aufrechte Haltung wieder.
So ist die Geschichte doch ein großartiges Beispiel für einen gelingenden Umgang mit Ängsten, wie wir sie alle irgendwie kennen und mit ihnen leben müssen – aber das eben auch können.
Und dann ist es eben irgendwann auch keine Angst mehr. Dann spüren wir uns nicht mehr unter Druck, sondern können gelassen werden. Die Gestalt verändert sich. Es bleibt eine Schlange, aber sie ist plötzlich nicht mehr bissig, sondern ein kräftiges Tier, das erstaunliche Überlebensfähigkeiten hat, das sich ständig häutet und erneuert und das daher im Altertum das Symbol der Heilkunde wurde und bis heute ist.
Und die Geschichte hat tatsächlich eine Dimension von Tod und Auferstehung, insofern sie eine Parabel für die Wiederentdeckung des Lebens ist.
Amen.
(gehalten am 18. März 2018 in Nürnber, St. Klara Kirche)