Liebe Gemeinde,
vor 36 Jahren, vom 12.‐16.März 1973, wurde auf dem Leuenberg bei Basel der Text der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa erarbeitet. Seitdem ist Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen, reformierten und den aus ihnen hervorgegangenen unierten Kirchen – unter Einschluss der ihnen verwandten vorreformatorischen Kirchen der Waldenser und der Böhmischen Brüder ‐ möglich.
Diese Kirchengemeinschaft bedeutet, dass es zu einem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums gekommen ist, dass die in den Bekenntnisschriften ausgesprochenen Lehrverurteilungen nicht mehr den heutigen Stand der Lehre der zustimmenden Kirchen betreffen und dass Kanzel‐ und Abendmahlsgemeinschaft unter Einschluss der gegenseitigen Anerkennung der Ordination gegeben ist.
Ich habe als junger Vikar in einer reformierten Gemeinde ordiniert, aus der unierten rheinischen Kirche stammend, die in Leuenberg gewonnene „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ als die Form eines neuen ökumenischen Miteinanders der reformatorischen Kirchen verstanden, die nicht nur zeitgemäß, sondern vor allem evangeliumsgemäß ist. Sie ist für mich bis heute auch in meinem bischöflichen Amt richtungweisend. Und ich will gestehen, dass ich nie nachvollziehen konnte, dass sich evangelische Kirchen gegenseitig das Kirche‐Sein absprachen und nicht einander Teil gaben an den besonderen Ausgestaltungen des jeweiligen Bekenntnisses, der Konfession also. Konfession ist also ‐ recht verstanden ‐ kein Synonym für Abschottung und Missachtung anderer. Mit der Frage nach der „Konfession“, dem Bekenntnis, macht die jeweilige Kirche vielmehr deutlich, was sie als ihren Glauben bekennt.
Es ist gut, daß dieses Verständnis gerade in der deutschen Ökumene tragend geworden ist. Indem von „Einheit in Vielfalt“ die Rede ist, wird zwar der Schade der Kirchenspaltung nicht geschönt, aber die genannten Begriffe lassen deutlich werden, daß das Verbindende gesucht und immer wieder gefunden wird. Die Identität der je anderen verdient höchsten Respekt, gerade sie ermöglicht das Gespräch, denn „ökumenisch kann nur sein, wer konfessionell ist.“ (1) Das uns Christen verbindende Grundbekenntnis lautet: „HERR ist CHRISTUS!“ Damit wird Ernst gemacht mit dem im 1. Korinther 3, 11 bestimmten Grund der Kirche: „Einen anderen Grund kann niemand legen, außer dem, der gelegt ist, CHRISTUS.“ Mein eigenes Bekenntnis gründet im Bekenntnis Gottes zu mir. Ich antworte mit meinem Bekenntnis auf das Angebot der Liebe Gottes. Natürlich ist mein Bekenntnis immer auch von der geschichtlichen Situation, in der es geschieht, bestimmt. Luther sagt: „Tota nostra operatio confessio est“, das heißt, all unser Tun ist Bekennen.
Der Satz „CHRISTUS ist der HERR“ will also aktualisiert werden in sich ändernden Zeitläufen meines Lebens: Geld, Gewalt, Krieg, das Verhältnis von Männer zu Frauen, ungerechte Verteilung der Güter dieser Erde etc. ‐ all dies erfordert aktuelles Bekennen. Solches Bekennen aber können wir nur glaubwürdig gemeinsam tun. Dies gilt auch für unsere Gemeinschaft mit den katholischen Geschwistern. Als Vorsitzender der ACKDeutschland, aber auch in meiner Eigenschaft als Catholica‐Beauftragter der lutherischen Kirchen in Deutschland sehe ich zunehmend schärfer das, was uns verbindet und weniger das, was uns trennt.
Nur wenige Momente seien genannt: die Taufe, die Bibel als gemeinsame Quelle der Erkenntnis, der Glaube an denselben Geist Gottes, der sein Volk begleitet, die gemeinsame Frage danach, was wir auf der Erde tun können, das gemeinsame Bild von Volk Gottes als wanderndes Gottesvolk, der Glaube an Jesus Christus. Das Verbindende wächst, wenn es wichtiger wird als das Trennende. Darum möchte ich unsere Kirchen ermuntern, zunehmend enger zusammenzuarbeiten, sich nicht auf Kosten des je anderen zu profilieren sondern einander an dem Reichtum und der Schönheit der je eigenen Ausgestaltung des Glaubens anteilzugeben. Vor allem aber miteinander öffentlich und entschieden in unserer Zeit das Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Herrn zu leben.
Die reformierte Gemeinde und die lutherischen Gemeinden in Braunschweig leben und arbeiten zusammen in dieser Region. Wir sind sogar verwaltungsmäßig miteinander verbunden, aber wichtiger als all dies ist, dass unsere Gemeinschaft zunehmend wächst und – so wünsche ich mir dies ‐ auch zu einer sichtbaren Einheit führen kann. 1990 noch hieß es in einem Studiendokument das zwischen dem Lutherischen Weltbund dem Reformierten Weltbund ausgehandelt wurde: „Theologische Übereinstimmung allein genügt nicht; sie muss in konkrete Situationen umgesetzt werden – mit ihren liturgischen, spirituellen, praktischen oder organisatorischen Konsequenzen. Im Moment befinden sich die lutherischen und reformierten Kirchen in Europa auf dem schwierigen Weg von der bloßen Erklärung zur Gestaltgebung der Kirchengemeinschaft.“ (2)
Das ist jetzt 19 Jahre her. Mit dem Calvinjahr 2009 in der Lutherdekade 2007‐2017 haben wir Zeit und Gelegenheit ganz konkret im Braunschweiger Land zwischen unseren Gemeinden diesen Weg fortzusetzen.
Liebe Gemeinde,
mit diesem Gottesdienst eröffnen Sie das Calvinjahr. Monat für Monat – so habe ich gelesen – werden Sie mit verschiedenen Veranstaltungen des bedeutenden Genfer Reformators gedenken, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 500. Male jährt.
Calvin, 1509 in Noyon in der Picardie als Sohn des Domkapitelnotars Gerard Cauvin und Jeanne le Francs geboren, standen die besten Bildungsmöglichkeiten seiner Zeit offen. So ging er zunächst zum Studium nach Paris und wäre sicherlich lieber Privatgelehrter geworden als sich den Strapazen eines Reformatorenlebens auszusetzen. Doch bereits seine Entscheidung, sich dem Pariser Humanistenkreis um Faber Stapulensis anzuschließen, zwang ihn im Zuge der Protestantenverfolgungen unter Franz I. zur Flucht und ins Exil und damit wohl auch zum Bekenntnis seines Glaubens. Dass aber aus dem humanistisch geprägten Juristen schließlich der europäische Reformator Johannes Calvin wurde, ist seinen Freunden Bucer und Farel zu danken.
Letzterer – ein Genfer Pfarrer – konnte Calvin dazu bewegen, die Reformation in seiner Heimatstadt Genf zu begleiten und zu gestalten und sie wider alle Versuche, die Stadt für den Katholizismus zurückzugewinnen, zu verteidigen. Wenn man bedenkt, dass sich Einwohnerzahl der Stadt durch Glaubensflüchtlinge fast verdoppelt hatte, erscheint einem Calvin mit seiner Lebensgeschichte regelrecht dafür prädestiniert, von Gott geführt, ihr Seelsorger zu sein. Dabei zog er seine Straße vermutlich nicht immer fröhlich, denn zunächst scheiterten Calvins Versuche, in Genf ein neues Kirchenwesen zu organisieren. So leitete er – übergangsweise – die Flüchtlingsgemeinde in Straßbourg und wagte 1541 einen zweiten Versuch in Genf. Dabei hatte er seine Rückkehr davon abhängig gemacht, ob die Genfer seine Kirchenordnung akzeptieren und seine Vorstellung von einer „Gemeinde der Gottes Wort Gehorchenden“ mittragen würden.
Bekundet haben muss man das wohl, sonst hätte Calvin die nächsten 23 Jahre – bis zu seinem Tode 1564 – nicht in Genf verbracht. Allerdings blieb diese Zeit gekennzeichnet von zähen Auseinandersetzungen mit dem Genfer Stadtrat. So lebte Calvin – nicht unumstritten und durchaus mit Rückschlägen und Anfeindungen – seine theologische Überzeugung, dass Gemeinde am Ort ohne irgendwelche Abstriche Kirche ist, nicht ohne sich zugleich der weltweiten Einheit der Kirche Jesu Christi verpflichtet zu wissen.
Diesem – wir würden heute sagen – Leitbild folgend, entwickelte er für seine Genfer Ortsgemeinde ein Leitungssystem und verankerte, neben den allezeit zentral wichtigen Bibelstudien, Bildungsarbeit und diakonisches Engagement als Kernaufgaben jeder Ortsgemeinde. Daneben postulierte er die Vernetzung der Ortsgemeinden innerhalb der einen Kirche Jesu Christi nicht nur, sondern schuf durch die synodale Verbundenheit aller die Grundlage für das strukturelle Miteinander der Ortsgemeinden in dem einen Leib Christi. Dass sich in diesem überregionalen Leitungssystem Wurzeln unseres heutigen Demokratieverständnisses wieder finden, soll dabei nicht unerwähnt bleiben.
Calvin wurde so nicht nur zum Genfer Reformator sondern wirkte weit über die Schweiz hinaus. Sein Kirchenbild und Gemeindeverständnis ist bis heute richtungweisend nicht nur für reformierte Gemeinden und Kirchen.
Als Theologe war und blieb Calvin den humanistischen Grundsätzen seiner Zeit verpflichtet. Deren Ruf „ad fontes“ folgend, wusste er sich streng an die Quellen des christlichen Glaubens, den biblischen Kanon, gewiesen und setzte sich folgerichtig lebenslang mit der Bibel auseinander. Aus diesen Studien gewann sein Hauptwerk, die „Institutio christianae religionis“, der Unterricht der christlichen Religion, Profil. Erstmalig erschienen 1536, war die „Institutio“ ein schmales Büchlein von sechs Kapiteln: Zeitgenossen bezeichnetet es als „Katechismus“, denn es folgte dem Aufriss des Kleinen Katechismus Martin Luthers (Dekalog, Credo, Herrengebet, Sakramente) und verriet in seiner Darstellung sowohl Kenntnis von dessen reformatorischer Schrift von 1520 „De capitivitate babylonica“ wie auch der „Loci communes“ von Melanchthon (1521).
Calvin hat seine „Institutio“ immer wieder überarbeitet, so dass sie nach und nach zum Spiegel seiner persönlichen theologischen Entwicklung wurde. Bereits drei Jahre später hatte die „Institutio“ schon 17 Kapitel und wuchs von da bis auf 80 Kapitel im Jahre 1559 an. In seiner Vorrede beschrieb er deren Aufgabe damit, „die Kandidaten der Theologie zur Lektüre der göttlichen Schrift so vorzubereiten und auszubilden, dass sie leicht Zugang zu ihr haben und ohne Schwierigkeiten Fortschritte erzielen können.“ (3) Damit dies gelingen könne, eröffnete Calvin seine Überlegungen mit den grundsätzlichen Fragen nach „der Erkenntnis Gottes und der Menschen“ (Cognitio dei et hominis). Sie bilden den Auftakt seiner Lehre und sollen im Folgenden erinnert werden.
Calvin selbst begründete diese Eröffnung seiner Dogmatik durch die These: „dass von Gott nur die Rede sein kann, soweit er sich den Menschen offenbart und vom Menschen, insofern er vor Gott steht.“4 Die Fragen nach der Erkenntnis Gottes und der Erkenntnis meiner selbst, die Fragen nach dem „Woher“ und „Wohin“ unseres Lebens, haben an Aktualität nichts verloren. Im Gegenteil: Mit Calvin können wir am Anfang des Jahres 2009, trotz aller für Calvin schier unvorstellbaren Wissenszuwächse,
Errungenschaften und Entwicklungen menschlichen Geistes, getrost festhalten: „all unsere Weisheit umfasst im Grunde zweierlei – die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.“ Auf dieses Fundament baut Calvin, auf diese Einsicht führt er alles zurück. Wir tun gut daran, es ihm gleichzutun, denn sind nicht alle Zusammenhänge, in denen wir uns weise dünken – Lebenserfahrung, Menschenkenntnis, das‐sich‐Fügen – letztlich nur Ausdruck der Anerkenntnis dessen, was Gott will?
Calvin war davon überzeugt, „dass wir erst dann dazu kommen, uns ernstlich nach Gott auszustrecken, wenn wir angefangen haben, uns selber zu missfallen ... denn von Natur aus verlassen wir uns lieber auf uns selbst.“5 Ihm war offenbar bewusst, was von jeher jeder und jede für sich immer neu durchbuchstabieren muss: Wenn wir rundum mit uns selbst zufrieden und im Reinen sind, dann setzt dies wohl voraus, dass wir manche notwendige Erkenntnis unserer selbst ausblenden. Wer aber – so sagte es Calvin seinen Zeitgenossen ‐ „sich selbst erkennt, der wird dadurch nicht nur angeregt, Gott zu suchen, sondern gewissermaßen angeleitet, ihn zu finden.“ Darum heißt es ja bei dem Propheten Jeremia: „Wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von Euch finden lassen, spricht Gott der Herr.“
So weist der Genfer Reformtor uns eine Richtschnur für das neue Jahr. In Gott ist uns die Richtschnur gegeben. Ihn zu suchen ist uns um unseres zeitlichen und ewigen Lebens willen aufgetragen. Dies aber heißt nichts anderes als Gott die Ehre zu geben. In der Betonung der Ehre Gottes gewinnt Calvin seine theologische Eigenständigkeit. Die Ehre Gottes zu mehren, sie zu bekennen, dienen die Werke eines jeden Christen. Indem der Mensch Gottes Willen tut, erfährt er seine eigentliche Bestimmung, wird zum Menschen, wie ihn Gott will.
Nicht umsonst sagt Calvin in der Auseinandersetzung mit den Nikodemiten:
“Vera pietas veram confessionem parit” ‐ Wahre Frömmigkeit führt unweigerlich zum Bekenntnis. (6)
Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber
1 So der Limburger Bischof Franz Kamphaus in der FAZ vom 30.9.1996.
(2) Auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft, Genf 1990, Ziffer 32
3 Zitiert nach: Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Band 2, Calvin und der Calvinismus, S.241
4 ebd.
5 Calvin, Institutio, Erstes Buch, Erstes Kapitel, 3.Absatz.
6 Calvin, Duae Epistolae, OS. I, S. 294.